Von "toxischer Männlichkeit" haben mittlerweile wohl die meisten schon einmal gehört. "Toxische Weiblichkeit" hingegen ist vielleicht nur wenigen Menschen ein Begriff. Die Autorin Sophia Fritz hat sich mit dem Phänomen auseinandergesetzt und erklärt im Interview, warum sich Frauen mit toxischer Weiblichkeit vor allem selbst schaden und warum ein Begriff wie "Powerfrau" für sie problematisch ist.
Frau Fritz, was ist toxische Weiblichkeit?
Sophia Fritz: Toxische Verhaltensweisen hindern uns daran, auf Augenhöhe mit einer anderen Person in Kontakt zu kommen. Bei toxischer Männlichkeit verortet sich die Person durch machohaftes Verhalten tendenziell über das Gegenüber. Genauso können weibliche Geschlechterrollen dafür genutzt werden, sich über oder unter einer anderen Person zu verorten. Wichtig ist aber, festzuhalten, dass beide Begriffe – toxische Männlichkeit und toxische Weiblichkeit – kein äquivalentes Begriffspaar sind. Toxische Männlichkeit ist viel gefährlicher, weil sie für Frauen und Männer häufiger tödlich endet. Toxische Weiblichkeit ist eine Notlösung, um in unterdrückenden Strukturen an Macht und Kontrolle zu gewinnen.
Warum stellen wir uns über eine andere Person oder ordnen uns ihr unter?
Das machen wir ja die ganze Zeit, wir brauchen auch bestimmte Rollen und Zuordnung, damit unser gesellschaftliches Leben so reibungslos und schnell funktionieren kann. Oft halten wir dadurch aber auch unbewusst Machthierarchien und Strukturen aufrecht, die wir vielleicht hinterfragen könnten. Mit meiner weiblichen Prägung verorte ich mich häufig unbewusst unter der anderen Person: Als gutes Mädchen, das sich maximal gut an das Gegenüber anpassen kann, oder als aufopferungsvolle Kümmerin, die die Bedürfnisse der anderen Person über die eigenen stellt.
Können Sie uns ein Beispiel für toxische Weiblichkeit nennen?
Statt auf Machogehabe greifen Frauen auf andere konditionierte Rollen zurück, wie beispielsweise die der fürsorglichen Mutter oder des netten Mädchens, um ihre Interessen durchzusetzen. Bei mir selbst spüre ich, dass ich in der Rolle des "guten Mädchens" immer den Wunsch nach Bindungssicherheit über meine authentischen Bedürfnisse stelle. Bedeutet: Lieber verstelle ich mich, als dass ich riskiere, von einer anderen Person nicht gemocht zu werden.
Ich denke hierbei etwa an eine typische Mansplaining-Situation: Natürlich gibt es Möglichkeiten, beispielsweise einen Arbeitskollegen darauf hinzuweisen, dass er gerade zu viel Raum einnimmt. Aber das fällt häufig unheimlich schwer, weil ich dann riskieren würde, als "kalt" oder "böse" zu gelten, was für das gute Mädchen in mir ja eine existenzielle Bedrohung darstellt. Wenn wir also "Nein heißt Nein" fordern, dann macht es Sinn, uns auch bewusst anzuschauen, warum es vielen Frauen so schwerfällt, Nein zu sagen.
Was versteht man unter Mansplaining?
- Hierbei handelt es sich um Situationen, in denen ein Mann seinem – meist weiblichen – Gegenüber auf herablassende Weise etwas erklärt, weil er wie selbstverständlich davon ausgeht, er wüsste mehr über das Thema. Der Begriff setzt sich aus den beiden englischen Wörtern "man" (Mann) und "explaining" (erklären) zusammen.
Bei der Konditionierung, das besagte "gute Mädchen" sein zu wollen, spielt also das Streben nach Gefallenwollen eine große Rolle …
Zumindest bei mir ist das definitiv der Fall.
Woran liegt das?
Bei Frauen, die jahrhundertelang als Besitz von Männern angesehen wurden, ist das Gut- und Liebenswürdig-Sein existenziell mit der Daseinsberechtigung verbunden gewesen. Angepasstheit war auch ein Versuch, Sicherheit zu generieren. Auch wenn sich heute vieles geändert hat, sind diese Ängste und Denkmuster noch tief in mir eingeschrieben, sie wurden quasi vererbt. Deswegen löst eine vermeintlich banale Nachricht wie "Wir müssen reden" in mir eine existenzielle Panik aus, viel existenzieller als bei meinem männlich geprägten Freund, zum Beispiel.
In Ihrem Buch sprechen Sie von fünf stereotypen Rollen, darunter das "gute Mädchen", über das wir bereits gesprochen haben. Wie kam es zu der Einordnung in diese fünf Oberbegriffe?
Mir war es wichtig, Schlagworte aufzugreifen, die wir alle kennen, aber gleichermaßen ablehnen. Grundsätzlich sprechen wir hier von misogynen Fremdbezeichnungen, mit denen Frauen ihre Daseinsberechtigung abgesprochen wird. Ich kann beispielsweise eine gute Chefin sein; bin ich jedoch zu kontrollierend, bin ich eine "Diva". Ich wollte diese Begriffe aufgreifen, um sie wirklich zu durchleuchten und zu schauen, wo innerhalb der Zuschreibungen auch Ressourcen liegen, die bisher einfach nicht als solche angesehen wurden.
Welche konditionierten Rollen gibt es in diesem Zusammenhang?
Ich bin beim Schreiben von mir ausgegangen – und bin gespannt, ob sich andere weiblich geprägte Menschen beim Lesen in den Analysen wiederentdecken. Im ersten Kapitel geht es um die Rolle des "guten Mädchens", das eine starke Anpassungsfähigkeit und ein großes Harmoniebedürfnis hat. Dann gibt es die "Powerfrau". Hier spielt Kontrolle eine große Rolle: Kontrolle über das Aussehen, den Job oder die Beziehung. Kontrolle soll Sicherheit generieren – wirkliche Entspannung ist mir zumindest in dem Modus aber nicht möglich.
Der Rolle der "Mutti" liegt es nahe, sich durch Kümmern und Fürsorge die Liebe anderer zu verdienen zu wollen oder durch Bemutterung den Partner kleinzuhalten. Im Kapitel "Opfer" ist es mir wichtig, zwischen einer öffentlichen und einer privaten Opferhaltung zu unterscheiden. Öffentliche Opferhaltungen und Gruppierungen Betroffener, zum Beispiel von Betroffenen von sexueller Gewalt, können helfen, sexistische, aber auch rassistische und ableistische Strukturen sichtbar zu machen und Täter und Täterinnen zu verurteilen. Gleichzeitig können wir uns im privaten Rahmen fragen, wo wir öfter Selbstverantwortung für unser Leben übernehmen könnten.
Was bedeutet Ableismus/ableistisch?
- Von Ableismus spricht man laut der Sozialorganisation "Aktion Mensch", wenn Menschen im Alltag auf ihre körperliche, ihre psychische Behinderung oder zum Beispiel auf eine Lernschwierigkeit reduziert und ungleich behandelt werden. Menschen mit Behinderung werden demnach von anderen Menschen ohne Behinderung auf die Merkmale reduziert, in denen sie sich vom vermeintlichen "Normalzustand" unterscheiden.
Die "Bitch" kann einmal für ein hinterlistiges, manipulierendes Verhalten stehen – was als Ausdrucksweise Sinn macht, wenn man mit einbezieht, dass weibliche Wut über Jahrhunderte tabuisiert und zensiert wurde. Im feministischen Kontext wird der Begriff aber auch als Ausdruck aufgegriffen, den Frauen sich selbst angeeignet haben, um sich gegen das Patriarchat stellen.
Bei Begrifflichkeiten wie "Powerfrau" kommt mir auch direkt die "Karrierefrau" in den Sinn. Von einem "Powermann" oder einem "Karrieremann" hingegen ist nie die Rede - warum eigentlich nicht?
Hätte die Gesellschaft Angst oder Respekt vor weiblicher Power, würde sie Frauen nicht mit solchen Begriffen gönnerhaft schmücken. Männer werden auch nicht in ihrer Power zelebriert – weil wir sie, zumindest bei weißen Cis-Männern, sowieso unbewusst mitdenken.
Was bedeutet Cis?
- Laut dem "Glossar Geschlecht und LSBTIQA+" der Amadeu-Antonio-Stiftung werden durch die Vorsilbe "Cis-" Personen bezeichnet, die bei Geburt ein Geschlecht zugewiesen bekommen und sich ein Leben lang damit identifizieren.
Dennoch bezeichnen sich viele Frauen selbst als "Powerfrau" oder "Girl Boss" …
Es gibt einen Trend, patriarchale Strukturen gewissermaßen zu kopieren und die Inszenierung von Macht und Stärke auf Frauen zu übertragen. Hier stellt sich für mich jedoch die Frage, ob das überhaupt das Ziel ist und ob Macht hier nicht möglicherweise mit Erfüllung verwechselt wird.
Braucht es also eine neue feministische Debatte?
Auf jeden Fall. Wir brauchen eine feministische Debatte, die ganz ohne Beschämungen auskommt. Damit meine ich sowohl die Beschämung von Frauen als auch die Beschämung von Männern. Auf Beschämung wird mit weiterer Beschämung und Groll reagiert, so kann kein Diskurs stattfinden. Frauenhass hat zudem noch nie Frauen abgeholt, Männerhass nie Männer – wir drehen uns also im Kreis. Der erste Schritt muss sein, mit dem Beschämen anderer, aber auch mit dem Beschämen von uns selbst aufzuhören.
Über die Gesprächspartnerin
- Sophia Fritz hat Drehbuch an der Filmhochschule in München studiert. Zudem hat sie eine Ausbildung als Jugendguide für Gedenkstätten und als Sterbebegleiterin im Hospiz. 2021 erschien ihr Debütroman "Steine schmeißen", im März 2024 ihr Sachbuch "Toxische Weiblichkeit".
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