Der Beginn des Studiums läutet Semester für Semester für viele junge Menschen einen neuen Lebensabschnitt ein. Was aber, wenn Prüfungsangst den Unialltag überschattet und immer mehr Raum einnimmt? Die Psychologin Stefanie Stahl ordnet die Herausforderungen für Studierende ein.
Frau Stahl, viele Studierende sind von Prüfungsangst betroffen. Wie blicken Sie aus psychologischer Sicht darauf?
Stefanie Stahl: Betroffene sollten sich zunächst bewusst machen, dass Prüfungsangst immer ein Stück weit normal ist. Einige sind davon etwas mehr, andere etwas weniger betroffen. Dennoch steht bei Prüfungen häufig einiges auf dem Spiel, wie etwa das Bestehen des Semesters oder der Glaube an sich selbst. Insofern ist Prüfungsangst normal und kann in Maßen auch extrem motivierend sein.
Wie sollten Betroffene mit Prüfungsangst umgehen?
Man kann die Angst auf mehreren Ebenen angehen. Dabei spielt die organisatorische Ebene eine große Rolle: Die Ursache für Prokrastination ist häufig Prüfungsangst. Indem ich aber das Lernen aufschiebe, verstärke ich die Angst. Stellt man dann irgendwann fest, dass einem die Zeit in der Prüfungsvorbereitung davonläuft, steigt die Bedrohlichkeit und die Angst nimmt zu.
Die meisten Ängste reduzieren sich, indem man mit den Vorbereitungen beginnt. Sobald man den Anfang gemacht hat, wird man schon etwas ruhiger. Ein guter Anfang wäre beispielsweise, eine Struktur zu erstellen. Während meines Studiums habe ich mir morgens vorgestellt, wie ich mich abends fühlen werde, wenn ich tagsüber gelernt habe und habe die Zufriedenheit und die Tatsache, stolz auf mich zu sein, abgerufen. Dem entgegengestellt habe ich das Gefühl, wie ich mich abends fühle, wenn ich nicht gelernt habe. Diese Emotionen können extrem motivierend sein und dazu antreiben, mit dem Lernen zu beginnen. Ich bin außerdem ein großer Fan davon, keine Alleingänge zu unternehmen, sondern sich mindestens einen Lernpartner oder eine Lernpartnerin zu suchen. Eine Lerngruppe, mit der man sich regelmäßig trifft, ermöglicht es, das Lernpensum untereinander aufzuteilen und damit auch Zeit zu sparen.
Welche Faktoren spielen neben der organisatorischen Ebene noch eine Rolle?
Studierende sollten der Prüfungsangst auch auf emotionaler Ebene begegnen und sie genau erforschen: Was genau macht mir eigentlich Angst? Wie genau sieht mein Worst-Case-Szenario aus? Hängt meine Angst möglicherweise mit alten Glaubenssätzen zusammen? Viele Menschen schleppen alte Glaubenssätze wie "Ich genüge nicht" oder "Ich bin nicht wertvoll" mit sich herum – an dieser Stelle gilt es, sich zu verdeutlichen, woher diese Glaubenssätze kommen. Denn häufig stammen sie aus der Vergangenheit oder dem Elternhaus, wie ich auch in meinem Buch "Das Kind in dir muss Heimat finden", erkläre. Somit sollten sich Betroffene auf einer tiefen Ebene bewusst machen, dass diese Glaubenssätze nichts über ihren Wert oder ihre Fähigkeiten aussagen. Darüber hinaus spielt die soziale Komponente eine große Rolle, indem Betroffene mit Freunden, Freundinnen, anderen Studierenden oder der Familie in den Austausch gehen und um Hilfe bitten.
Wenn es den Studierenden aus eigener Kraft nicht gelingt, mit ihrer Prüfungsangst umzugehen: Wann sollten sie professionelle Hilfe in Erwägung ziehen?
Wenn das Thema Prüfungsangst zu überwältigend für sie wird und sie merken, dass sie sowohl mit organisatorischen, emotionalen als auch sozialen Strategien nicht weiterkommen, sollte man in eine Beratung gehen, wie sie von vielen Universitäten angeboten werden. Auch eine psychologische Beratung kann helfen.
Was, wenn eine Prüfung trotzdem einmal schiefläuft?
Für das Selbstwertgefühl ist das natürlich ein schmerzhafter Schlag, keine Frage. In diesem unmittelbaren Moment darf man sich also die Erlaubnis geben, dieses schlechte Gefühl zu empfinden. Das Problematische an so einer Situation ist, dass die Studierenden meiner Meinung nach zu viel von ihrem Selbstwertgefühl davon abhängig machen und sich in einer Art Tunnel rund um die nicht bestandene Prüfung begeben. Umso mehr sollten die Betroffenen ihre Sicht ganz bewusst auf eine Art Weitwinkel stellen und sich vor Augen führen, was sie in ihrem Leben bereits erreicht haben und worin ihre Stärken liegen. Denn ihr Selbstwert hängt nicht von einer misslungenen Prüfung ab. Viele erfolgreiche Menschen sind schon einmal durch eine Prüfung gerauscht. Insofern rate ich allen Betroffenen zu einer realistischen Analyse der Situation.
Wie kann so etwas aussehen?
Zunächst sollte man sich nicht an seinen alten Glaubenssätzen aufhängen und sich die alleinige Schuld geben. Genauso rate ich aber davon ab, dem Prüfer oder der Prüferin die Verantwortung zuzuschieben. Vielmehr lohnt sich der ehrliche Blick darauf, was besser hätte laufen können, sowie darauf, was aber auch gut lief. Denn in der Regel hat man bei einer nicht bestandenen Prüfung nicht alles falsch gemacht. Umso wichtiger ist eine kritische Analyse der Prüfungssituation, sodass die begangenen Fehler beim nächsten Mal idealerweise vermieden werden können, frei nach dem Motto: Hinfallen ist nicht schlimm, Liegenbleiben schon.
Manchmal erscheint der Studiengang in den ersten Semestern die falsche Wahl zu sein. Was macht es mit Studierenden, wenn sie merken, dass Vorstellung und Realität des Studiums stark voneinander abweichen?
Natürlich macht sich eine gewisse Ernüchterung bemerkbar. An dieser Stelle sollte sich aber nicht zwingend eine absolute Erschütterung breitmachen. Vielmehr sollte man sich bereits vor der Wahl der Studiengangs intensiv damit beschäftigen, was möglicherweise auf einen zukommen könnte. Außerdem rate ich dazu, sich selbst kritisch zu hinterfragen und sich die Frage nach den Gründen für die Studienwahl zu stellen. Häufig spielen Sicherheitsmotive eine Rolle und aus vermeintlicher Vernunft wird sich für einen Studiengang wie BWL entschieden, obwohl das Herz eigentlich für Archäologie schlägt. Auch der Einfluss der Eltern kann eine Rolle bei der Studienwahl spielen. Doch nur weil der Vater Arzt ist, muss Medizin nicht automatisch der perfekte Studiengang für das Kind sein. Die kritische Frage nach den Motiven eines Studiums sollte also im Fokus stehen.
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Es gibt aber noch eine andere Seite der Medaille. Denn jedes Studium beinhaltet meiner Meinung nach sehr langweilige Bereiche, da darf man sich nichts vormachen. An dieser Stelle sollten Studierende sich kritisch fragen, ob sie aus einer Bequemlichkeit oder sogar Faulheit heraus bereit für einen Studienabbruch wären. Brennen Sie jedoch für den späteren Beruf, sind sie logischerweise eher bereit, diese zähen Phasen auszuhalten und das Studium abzuschließen.
Die Gründe, die dazu führen können, ein Studium abzubrechen, sind also vielfältig …
Ja. Ein weiterer Grund ist das ehrliche Eingeständnis, mit dem Studium überfordert zu sein, oder die Erkenntnis, sich mit praktischen Arbeiten viel wohler zu fühlen. Hier spielen falscher Ehrgeiz und der Druck, der häufig seitens des Elternhauses aufgebaut wird, eine große Rolle. Umso wichtiger ist es, sich mit seiner inneren Motivation auseinanderzusetzen.
Das vermeintliche Ziel, irgendwann einmal die Praxis oder Kanzlei eines Elternteils zu übernehmen, kann bei zweifelnden Studierenden den Druck erhöhen, das Studium dennoch durchziehen zu müssen …
Absolut. An diesem Punkt rate ich dazu, sich gesund von den Eltern zu lösen, um dieses Thema nicht ein Leben lang mit sich herumschleppen zu müssen. Eine gesunde Distanz zum Elternhaus ist wichtig, um das eigene Leben leben zu können und nicht Erwartungen der Eltern zu erfüllen, hinter denen man selbst nicht steht. Insofern sollte die gesunde Lösung als Chance gesehen werden, eine wichtige Entwicklungsaufgabe aktiv anzugehen, um nicht immer wieder von ihr eingeholt zu werden.
Viele Studierende verspüren mit Blick auf den zukünftigen Arbeitsmarkt Existenzängste. Was raten Sie hier?
Existenzängste sind wie alle Ängste in die Zukunft gerichtet. Hierbei ist es wichtig, zu verstehen, dass man sich ausschließlich mit seinen eigenen Gedanken Angst macht. Hier rate ich, diese Gedanken aufzuschreiben und abzuwägen, wie realistisch sie tatsächlich sind. Ebenso sollten die Möglichkeiten, die man für die Zukunft sieht, realistisch notiert werden. Wer ängstlich ist, neigt zum Grübeln. Dabei handelt es sich um einen Versuch unseres Gehirns, Dinge unter Kontrolle zu bekommen, weil Kontrolle die Antwort auf Angst ist. Indem man die Gedanken und Sorgen schriftlich festhält, entlastet man sein Gehirn von dieser Kontrollfunktion. Nun kann man sich wieder in das Hier und Jetzt begeben und sich im Vertrauen üben.
Menschen, die starke Existenzängste verspüren, tragen zudem häufig negative Glaubenssätze in sich. Insofern kann diese Methode eine schöne Möglichkeit bieten, sich mit tief verankerten Themen aus der Vergangenheit zu befassen und dem inneren Schattenkind entgegenzutreten, das schon immer sehr unsicher war und herausfordernde Episoden durchstehen musste.
Vor allem junge Studierende ziehen für das Studium erstmals aus dem Elternhaus aus. Was tun, wenn sich Heimweh einstellt?
Mein Eindruck ist, dass die Studierenden von heute mehr Heimweh haben als Studierende früher. Meines Erachtens hängt das damit zusammen, dass das Verhältnis zwischen Kindern und ihren Eltern in den letzten Jahren immer enger geworden ist. So eine starke Bindung bringt natürlich viele positive Aspekte mit sich. Dennoch leidet die Autonomie der Kinder darunter. Natürlich sollte bei Heimweh der Kontakt zu der Familie und Freundinnen und Freunden aus der Heimat weiter gepflegt werden. Besonders starkes Heimweh kann übrigens auch als Chance zu mehr Autonomie betrachtet werden. Indem die jungen Menschen aktiv neue Kontakte suchen und bewusst für sich sorgen, gehen sie einen wichtigen Schritt in Richtung eigene Autonomie und Selbstständigkeit.
Über die Gesprächspartnerin
- Stefanie Stahl ist Psychologin und Autorin. Neben ihrer therapeutischen Tätigkeit in ihrer Praxis hat sie zahlreiche Ratgeber zur Selbsthilfe veröffentlicht, die allesamt Bestseller im deutschsprachigen Raum sind. Ihr Sachbuch "Das Kind in dir muss Heimat finden" ist seit sieben Jahren Spiegel-Jahresbestseller wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt.
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