Wir alle nehmen gelegentlich den direkten Weg querfeldein, statt auf dem gepflasterten Weg zu bleiben. Solche Trampelpfade bezeichnet man als Sehnsuchtspfade. Warum eigentlich?
Neulich stieß ich im Netz auf einen Begriff, den ich noch nie zuvor gehört hatte - und der mir seither nicht mehr aus dem Sinn geht: Desire Path – Sehnsuchtspfad. Was irgendwie nach Esoterik und spiritueller Manifestation klingt, ist nichts Anderes als eine Art Trampelpfad; ein Pfad also, entstanden durch häufiges Begehen der gleichen Wegstrecke in unwegsamem Gebiet.
Trampelpfade sind quasi die Mutter aller Wege – auf ihnen entstanden die ersten befestigten Straßen, die berühmteste ist wohl der New Yorker Broadway. Desire Paths hingegen, auch Bootleg Trails oder soziale Pfade genannt, sind sowas wie die rebellische Teenie-Tochter der Trampelpfade.
Man findet sie an Autobahnraststätten, auf Grünflächen von Firmengeländen und Wohnanlagen, an Böschungen von Supermarktparkplätzen, in öffentlichen Parks. In der Regel also dort, wo die bewusst angelegten und gepflasterten Wege länger, umständlicher, lückenhaft, oder gar nicht vorhanden sind. Sehnsuchtspfade weisen stets den direkten Weg.
Neue Pfade entstehen
Ist so ein Weg erst einmal "eingetreten", neigen nachfolgende Fußgänger:innen dazu, dieser sichtbar vorhandenen Route zu folgen – das geht schneller und ist bequemer, als sich seinen eigenen neuen Weg zu bahnen. Doch beim Querfeldein-Gehen haben wir oft ein schlechtes Gewissen und irgendwie auch das Gefühl, irgendwas Verbotenes zu tun.
Und tatsächlich schädigt das wiederholte Zertrampeln die Bodenqualität – und ist vor allem in empfindlichen Lebensräumen und Naturschutzgebieten problematisch. In den USA schuf deshalb der National Park Service das "Leave No Trace"-Aufklärungsprogramm. Es weist Wanderer an, auf den ausgewiesenen Wegen zu bleiben oder – wenn sie abseits unterwegs sind – ihre Wanderroute so zu wählen, dass nicht etwa versehentlich neue Pfade entstehen.
Wege des freien Willens
Klar, durchs Naturschutzgebiet trampeln ist assi und zerstört die Vegetation. Städtische Sehnsuchtspfade - zur Bushaltestelle, zum Bäcker, zum Büro - reparieren indes Lücken im System. Städte sind für Menschen gebaut, aber oft verlaufen bewusst angelegte Wege unseren natürlichen Routen zuwider. Desire Paths sind eine trotzige Ablehnung solcher Fehlplanung – und zeigen auf, welche Bewegung wichtig, welche Richtung richtig ist.
Der britische Autor Robert Macfarlane bezeichnet sie deshalb auch als "Wege des freien Willens." Hinter ihnen verbirgt sich unsere Sehnsucht, die Wahl zu haben und selbst zu entscheiden, wo es langgeht – der Weg des geringsten Widerstands als ziviler Widerstand.
In jedem Fall sind Sehnsuchtspfade eine wunderbare Allegorie fürs Leben. Sie symbolisieren unser Streben nach Vollständigkeit, unser Bedürfnis, den Dingen einen Sinn zu geben – und uns die Welt so zu machen, wie sie uns gefällt. Eine Art spirituelle Manifestation, also doch.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.