Mit dem Gute-Kita-Gesetz weckte die SPD 2019 die Hoffnung, die Lage in Deutschlands Kitas in Sachen Fachkräftemangel zu verbessern. Nun zeigt eine Studie: Das Gegenteil ist der Fall. Expertin Ilse Wehrmann erklärt, wo die Versäumnisse der Politik liegen und worin sie die einzige Hoffnung sieht, dass die Politik aufwacht.

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Die Zahlen sind – mal wieder – erschreckend.

125.000 Fachkräfte fehlen laut einer Studie des Paritätischen Gesamtverbandes derzeit im gesamten Bereich der Kindertagesbetreuung. Deutlich mehr, als Familienministerin Lisa Paus (Grüne) zuletzt geschätzt hatte. Sie war von 50.000 bis 90.000 fehlenden Fachkräften in Deutschlands Kitas bis 2030 ausgegangen.

Sozialpädagogin und Erzieherin Ilse Wehrmann glaubt trotzdem nicht, dass die jüngsten Zahlen zu einem Umdenken führen. "Mich erschreckt die Gleichgültigkeit der Politik", sagt sie. Bereits seit Jahrzehnten verfolgt Wehrmann die Situation in den deutschen Kitas und ist Expertin für Frühpädagogik.

Expertin zur Situation der Kitas: "So schlimm wie noch nie"

Sie sagt: "So schlimm wie heute war es noch nie." Dabei hatte das Gute-Kita-Gesetz von 2019 Hoffnung gemacht, welches die SPD initiiert und umgesetzt hatte. Ziel des Gesetzes war unter anderem die Erhöhung der Ausbildungskapazität, um den weiter steigenden Personalbedarf in Kindertageseinrichtungen erfüllen zu können.

Der Bericht des Paritätischen Gesamtverbandes zeigt jedoch das Gegenteil: In den meisten Kitas haben sich die Rahmenbedingungen zwischen 2021 und 2023 verschlechtert – im Schnitt fehlen mehr als zwei Fachkräfte pro Einrichtung.

Fast 20 Behörden involviert

Die Probleme von heute – samt Notbetreuung, überlasteten Erziehern und Eltern, die beruflich zurückschrauben müssen, weil sie keine ausreichende Betreuung finden – hätte man aus Sicht von Wehrmann lange vorhersehen können.

"Seit 1996 gibt es einen Rechtsanspruch für einen Betreuungsplatz von 3 bis 6 Jahren, seit 2013 für Betreuung ab einem Jahr. Man hätte lange reagieren können und Ausbildungskapazitäten hochfahren können", zeigt sie auf. Ständig werde in der Politik etwas angekündigt – ohne, dass den Worten Taten folgen.

Besonders anschaulich ist das aus ihrer Sicht beim Bau von neuen Kitas: "Dabei verwalten wir uns zu Tode. Bis eine neue Kita fertig ist, sind fast 20 Ämter und Behörden involviert", sagt Wehrmann. Auch Anerkennungsverfahren von ausländischen Fachkräften würden viel zu lange dauern. "Dabei brauchen wir sie dringend", erklärt die Expertin.

Bildung zur Chefsache machen

Es sei kein hinnehmbarer Zustand, dass die Entwicklung vieler Kinder davon abhänge, wie finanzkräftig ihre Kommune und wie engagiert die dortige Bürgermeisterin oder der dortige Bürgermeister ist. "Wir brauchen vergleichbare Standards in den Kitas – das trifft auch auf die Beiträge zu", betont Wehrmann.

Während beispielsweise für Eltern in Aachen, Berlin und Cottbus der Kitaplatz kostenlos ist, zahlen Eltern mit einem Bruttoeinkommen von 50.000 Euro für die Betreuung eines einjährigen Kindes in Magdeburg 240 Euro und in Essen 318 Euro im Monat. Das zeigt ein Ranking des Instituts der deutschen Wirtschaft.

Wehrmann fordert: "Bildung muss Chefsache sein. Der Kanzler sollte einen Bildungsgipfel mit Praktikern einberufen." Das wäre auch der Wertschätzung der Familien und Pädagogen dienlich. "Sie fühlen sich von der Politik schon lange nicht mehr ernst genommen", ist sich Wehrmann sicher. Dadurch, dass der Personalmangel die verbliebenen Fachkräfte zusätzlich belaste, laufe man Gefahr, dass immer mehr das Handtuch schmeißen.

Fehler der Vergangenheit

Ein besonderes Versäumnis in der Vergangenheit sei es gewesen, stets nur über Kindergelderhöhungen oder Leistungen für die Familien nachzudenken oder zu streiten. "An vielen Stellen wäre das Geld besser in die Infrastruktur investiert gewesen", sagt Wehrmann. Die Expertin meint: "Wir brauchen ein Sondervermögen Bildung."

Für die Bundeswehr war ein solches Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro 2022 beschlossen worden. "Wir müssen auch an Bildung denken", mahnt Wehrmann und zeigt auf: "Auf den Kitakollaps wird ein Wirtschaftskollaps folgen. Bereits jetzt gehen Familien, die grenznah wohnen, ins Ausland." Der Rohstoff in Deutschland sei Wissen. Umso unverständlicher ist es aus ihrer Sicht, dass die Politik nur kurzfristige Erfolge mit Blick auf die nächsten Wahlen einfahren wolle.

Streit ums Geld

Auch dieser Tage dreht sich der Streit in der Ampel mal wieder ums Geld: Finanzminister Christian Lindner (FDP) und Familienministerin Paus (Grüne) zanken sich um die Kita-Förderung. Auf Basis des Gute-Kita-Gesetzes hatten sich die Länder zur Einhaltung bestimmter Standards verpflichtet. Der Bund hatte dazu für die Jahre 2023 und 2024 rund vier Milliarden Euro beigesteuert. Doch die finanzielle Beteiligung des Bundes endet Ende dieses Jahres – ohne, dass bislang eine Fortsetzung vorgesehen wäre.

Die FDP verweist auf die höheren Steuereinnahmen der Länder im Vergleich zum Bund und betont, dass Bildung Ländersache sei. Paus äußerte sich bislang nicht über die Summe, die sie vom Finanzministerium fordert. "Eltern, Großeltern, Erzieherinnen und Lehrer sollten gemeinsam auf die Straße gehen. Reformen wurden immer von unten erkämpft und nicht von oben beschert", sagt Expertin Wehrmann dazu.

Rat für betroffene Eltern

Eltern, die keinen Kitaplatz bekommen haben, kann sie darüber hinaus nur einen Tipp geben:
"Ich rate allen Eltern, die keinen Betreuungsplatz bekommen, den Klageweg zu gehen", sagt Wehrmann.

Hintergrund ist der Folgende: Ab dem ersten Lebensjahr haben Kinder einen Rechtsanspruch auf Betreuung – mindestens halbtags. Die Kita oder Tagesbetreuung muss dabei in zumutbarer Nähe liegen.

Wer von allen verfügbaren öffentlichen Kitas eine Absage bekommt und das schriftlich belegen kann, kann ein Klageverfahren anstreben. Die Kommune muss dann in der Regel die Mehrkosten übernehmen, die durch eine private Betreuung oder Verdienstausfall entstehen. "Eine Klagewelle könnte die Politik wachrütteln. Erst dann wird sich etwas ändern", glaubt Wehrmann.

Über die Gesprächspartnerin

  • Dr. Ilse Wehrmann ist Sozialpädagogin, Erzieherin und Sachverständige für Frühpädagogik. Sie berät und begleitet den Aufbau von betrieblichen und betriebsnahen Kitas. Wehrmann ist Autorin des Buches "Der Kita-Kollaps", welches 2023 im Herder-Verlag erschienen ist.
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