"Wohlstand für alle" war einst der Titel eines Buches von Wirtschaftswunder-Kanzler Ludwig Erhard und bis weit in die 1980er Jahre hinein das Mantra deutscher Politik. Doch spätestens seit der Agenda-Politik der rot-grünen Bundesregierung von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder scheint diese Leitlinie der bundesrepublikanischen Identität abhanden gekommen zu sein. Immer mehr Bürger fürchten sich vor dem gesellschaftlichen Abstieg. Zu Recht?

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Eine neue Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und der Uni Bremen im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung legt zumindest den Schluss nahe, dass immer weniger Menschen in Deutschland Teil der Mittelschicht sind. Bei den Reallöhnen, dem Haushaltseinkommen und beim Vermögen hätten die Mitglieder der Mittelschicht in den letzten Jahren so hohe Abstriche machen müssen, dass immer mehr Menschen aus ihr herausfallen, so die Autoren der Studie. Auch eine gute Ausbildung sei kein Garant mehr für Wohlstand und die entsprechende gesellschaftliche Teilhabe.

Seit dem Jahr 1997 seien 5,5 Millionen Menschen aus der Mittelschicht herausgefallen, heißt es in der Studie. Der prozentuale Anteil der Mittelschicht sei von 65 Prozent auf 58 Prozent gesunken. Die Forscher von DIW und Uni Bremen zählen Menschen zur Mittelschicht, die zwischen 70 und 150 Prozent des durchschnittlichen Einkommens verdienen. Der Mittelwert betrug 2010 für einen Einpersonen-Haushalt 19.400 Euro. Zur Mittelschicht gehören demnach Singles mit einem Netto-Monatseinkommen von 1.130 bis 2.420 Euro. Mittelschicht-Familien mit zwei Kindern verfügen danach über einem Budget von 2.370 bis 5.080 Euro.

Rückkehr in die Mittelschicht fällt schwer

Besonders auffällig sei, dass der Anteil von Menschen, die weniger als 70 Prozent des Durchschnitts verdienen, im gleichen Zeitraum um 4 Millionen gestiegen sei, während es am oberen Rand der Mittelschicht nur wenig Veränderungen gab. Für das Schrumpfen der Einkommens-Mittelschicht werden drei Ursachen ausgemacht: die Zunahme von Ein-Personen-Haushalten, die Steuerreform sowie die Arbeitsmarktreformen. Die meisten Menschen, die die Mittelschicht nach unten verlassen, arbeiten in prekären Beschäftigungsverhältnissen oder im Niedriglohnsektor. Sie finden sich also in der Unterschicht wieder. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel befürchtet gar, dass die Mittelschicht zwischen wachsendem Reichtum einerseits und neuer Armut andererseits "zerrieben" werde.

Ob die Mittelschicht wirklich erodiert, ist unter Wirtschaftswissenschaftlern jedoch umstritten. Eine Studie der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) zeichnet ein gänzlich anderes Bild und kommt zu dem Ergebnis, dass die Mittelschicht nicht schrumpfe. Besonders im Osten würden sich heute mehr Menschen zur Mittelschicht zählen als direkt nach der Wiedervereinigung. Auch würden immer mehr Bundesbürger sich aufgrund anderer Faktoren als Einkommen - etwa des gestiegenen Bildungsniveaus - als Teil der Mittelschicht fühlen. Auch das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft widersprach den Ergebnissen von DIW und Uni Bremen entschieden: "Die deutsche Mittelschicht ist stabil." Aktuell sei sie in etwa so groß wie kurz nach der Wiedervereinigung - und Angst vor dem Abstieg sei meist unbegründet.

In einem Punkt sind sich die Forscher jedoch einig: Immer mehr Menschen am unteren Rand der Mittelschicht sind dem Risiko ausgesetzt, in der sozialen Rangfolge weiter abzurutschen. Auch die Autoren der KAS-Studie sehen in diesem Teil der Mittelschicht verbreitet "Zukunftsunsicherheit und Verlustängste", was verständlich sei angesichts der Nähe zu unteren Einkommensschichten. Ein Problem, dass offenbar auch der Bundesregierung bewusst ist, auch wenn sie es nicht zugeben möchte: Wie sonst ist zu erklären, dass kritische Passagen zur zunehmenden Spaltung der Gesellschaft aus dem Entwurf zum aktuellen Armuts- und Reichtumsberichts komplett getilgt wurden?

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