Mit allen verfügbaren Mitteln stemmte sich der scheidende EZB-Präsident Mario Draghi gegen die Eurokrise. Die Auswirkungen spüren die Menschen in Europa bis heute. Seitdem gibt es auch Kritik am Kurs der Notenbank. Ist Draghi nun der Schrecken der deutschen Sparer - oder doch der Retter der Eurozone?

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Mario Draghi hat als EZB-Präsident polarisiert. Nullzins, Strafzins für Banken, Anleihenkäufe - Draghi zog im Kampf gegen Mini-Inflation und Konjunkturflaute alle Register. Nie zuvor hat die Europäische Zentralbank (EZB) über einen so langen Zeitraum so viel billiges Geld in den Markt gepumpt.

Kurz vor Ende seiner achtjährigen Amtszeit setzte Draghi gegen heftige Widerstände sogar noch eine Verschärfung der ultralockeren Geldpolitik durch.

Kritik an "Enteignung der Sparer"

Angetreten war der Italiener am 1. November 2011 mit dem Versprechen, in der Tradition der Deutschen Bundesbank stabile Preise zu garantieren. Die "Bild"-Zeitung verpasste "Super-Mario" prompt eine Pickelhaube.

Der Helm sollte den ehemaligen Chef der italienischen Notenbank an preußische Tugenden erinnern. Heute prangert das Blatt "Graf Draghila" an, der die Konten deutscher Sparer leer sauge.

"Jahrzehntelang haben wir Deutschlands Kindern beigebracht, dass Sparen sinnvoll ist, weil man für schlechte Zeiten in Krisen vorsorgen muss. Sie schleifen diese Kultur", kritisierte Sparkassen-Präsident Helmut Schleweis im Sommer 2019 in einem offenen Brief an Draghi. "Das alles kann langfristig nicht gut enden."

Der Chor der Kritiker ist lautstark. Wahlweise ist von "Fehlentwicklung", "zerstörerischer Geldpolitik" oder "Enteignung der Sparer" die Rede, Banken und Versicherungen fühlen sich durch Draghis ultralockerere Geldpolitik gegängelt und ihrer Erträge beraubt.

Mario Draghi: Unbequeme Methoden in schwierigen Zeiten

Der einstige Jesuitenschüler Draghi, zeigte sich von der Dauerkritik vor allem aus Deutschland unbeeindruckt: "Unsere Geldpolitik war erfolgreich", beschied er im Sommer 2017. Und im Juni 2019 resümierte Draghi - wie so oft mit stoischer Miene -, die EZB habe in schwierigen Zeiten bewiesen, wie flexibel sie handeln könne.

In der Tat: Während Europas Politiker stritten, schuf der Chef einer nicht demokratisch gewählten Institution Fakten. "Die EZB wird alles tun, um den Euro zu retten", versprach Europas oberster Währungshüter im Sommer 2012: "Whatever it takes".

Draghis Machtwort stabilisierte die Eurozone in der tiefsten Krise ihrer jungen Geschichte - das gestehen sogar seine Kritiker dem scheidenden EZB-Präsidenten zu.

Schon zu seinem Einstand in Frankfurt überraschte der ehemalige Exekutivdirektor der Weltbank (1984-1990) und spätere Goldman-Sachs-Investmentbanker (2002-2005): Draghi senkte die Zinsen.

Ende Oktober 2019 wird sich der 72-Jährige als erster EZB-Präsident aus dem Amt verabschieden, in dessen Amtszeit die Zinsen nicht mehr angehoben wurden.

Deutschland ist ein Gewinner der Niedrigzinspolitik

Was Sparer ärgert, freut Schuldner. Die Nachfrage nach Immobilien boomt seit Jahren, weil Baukredite kaum noch etwas kosten. Zudem ist das billige Notenbank-Geld seit Jahren Schmierstoff für die Börsen.

Und auch starke Volkswirtschaften wie Deutschland profitieren: Der deutsche Finanzminister verdiente sogar am Schuldenmachen, weil Geldgeber bereit waren, negative Zinsen zu akzeptieren.

"Deutschland ist nicht Verlierer der Niedrigzinspolitik der EZB, sondern unser Land ist einer der Gewinner", stellt der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher fest.

"Und nicht nur unser Land, sondern jeder einzelne von uns hat in der einen oder anderen Form von der Geldpolitik und dem Euro profitiert."

Doch der Streit, ob die Notenbank unter Draghis Führung ihre Kompetenzen überschritten habe, schwelt weiter - zum Beispiel vor dem Bundesverfassungsgericht. Die Karlsruher Richter haben ernsthafte Bedenken, dass die Währungshüter mit ihren milliardenschweren Käufen von Staatsanleihen womöglich zu weit gehen.

Auch wenn der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Käufe für rechtens erklärt hat, könnte Karlsruhe im äußersten Fall der Bundesbank als größtem Anteilseigner der EZB die Beteiligung an neuen Anleihenkäufen untersagen.

Entscheidungen ohne Konsens

Draghi jedoch hat längst Fakten geschaffen, die den Euroraum mit seinen 19 Mitgliedstaaten noch weit über seine Amtszeit hinaus prägen werden. Kritiker im Zentralbankrat zeigen sich zermürbt vom "System Draghi", in dem der Präsident Entscheidungen durchgesetzt habe, statt den Konsens zu suchen.

Die ehemalige Bundesbank-Vizepräsidentin Sabine Lautenschläger erklärte ihren Rücktritt aus dem sechsköpfigen EZB-Direktorium zum 31. Oktober dieses Jahres.

Eine gewisse Sturheit habe den gebürtig aus Rom stammenden Draghi schon als jungen Wirtschaftsprofessor ausgezeichnet, schrieb vor einigen Jahren die "Wirtschaftswoche": Als er das Examen an der Universität von Trient abnahm, hätten seine Studenten ihm erklärt, sie wollten Fragen nur als Kollektiv beantworten.

Draghi habe entgegnet: "Wenn der Kollektivsprecher richtig antwortet, besteht die ganze Klasse. Liegt er falsch, fallen alle durch." Der Sprecher der Gruppe antwortete falsch - Draghi ließ alle durchfallen.  © dpa

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