Joachim Löw hat in seinem luxuriös bestückten Kader eine große Baustelle: Steht Manuel Neuer bei der WM im Tor oder doch Marc-Andre ter Stegen? Der Bundestrainer hat sich früh festgelegt - aber wird es für Neuer tatsächlich auch reichen?

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Zur schönen neuen Welt beim Deutschen Fußball-Bund gehört auch, dass Freundschaftsspiele nicht mehr Freundschaftsspiele heißen, sondern Testspiele.

Das verleiht der Veranstaltung von Haus aus einen anderen Charakter. Und weil Oliver Bierhoff irgendwann die Idee hatte, den deutschen Fans in diesen Testspielen vornehmlich namhafte Gegner zu kredenzen, schafft das in der Theorie gleich einen doppelten Anreiz: für die Zuschauer, die lieber große Gegner sehen. Und für die Spieler, die früher gerne einmal schwänzten, wenn es gegen zweit- oder drittklassige Gegner ging.

In den kommenden Tagen wird nicht gegen Kamerun oder die Ukraine in Freundschaft getestet, sondern gegen Spanien und Brasilien.

Attraktiver könnten die beiden Gegner kaum sein, gegen die sich der Weltmeister einstimmen soll auf die Mission Titelverteidigung im Sommer. Es werden die beiden einzigen Testspiele bleiben, bevor Löw Ende Mai den Kader für die Titelkämpfe in Russland bekanntgeben wird.

Und erstmals seit zwölf Jahren wird wenige Wochen vor Ablauf der Nominierungsfrist nicht klar sein, wer das deutsche Tor beim Weltturnier hüten wird.

Damals lief es auf einen sportlichen Wettstreit zwischen Oliver Kahn und Jens Lehmann hinaus, Anfang April entschied sich der damalige Bundestrainer Jürgen Klinsmann für Lehmann.

Diesmal steht kein Konkurrenzkampf an, vielmehr werden ärztliche Bulletins darüber entscheiden, ob Manuel Neuer oder Marc-Andre ter Stegen in Russland im deutschen Tor stehen wird.

Wird Manuel Neuer nur fit oder auch spielfit?

In regelmäßigen Abständen flackert das Thema auf - weil Manuel Neuer seit Mitte September kein Spiel mehr bestritten hat.

Seitdem heißt es nahezu monatlich von Bayern-, DFB- und Spieler-Seite, dass der Genesungsprozess langsam, aber gut verlaufe und Neuer rechtzeitig zur WM fit werde.

Nicht nur obsessive Geister wie Louis van Gaal würden nun aber streng intervenieren. Van Gaal hat die Unterscheidung zwischen fit und spielfit bekannt gemacht.

Fit im Sinne einer vollständigen körperlichen Gesundung sei etwas völlig anderes als spielfit im Sinne einer körperlichen, mentalen und auf die Anforderungen angepassten Vorbereitung. Und die kann Neuer nach über einem halben Jahr Verletzungspause bis zur WM kaum mehr aufholen.

Ob und wie er den operierten Mittelfuß aktuell überhaupt belasten kann, weiß derzeit kaum jemand - von Neuer und seinem Reha-Team abgesehen.

Bei Feldspielern gilt die Faustregel, dass ein Spieler so lange auf das Erreichen seiner hundertprozentigen Leistungsfähigkeit hinarbeiten muss wie er zuvor verletzt war.

In Neuers Fall hieße das, er könnte im optimalen Fall im Herbst wieder der Manuel Neuer vor seiner Verletzung sein. Zumal sich Neuer dieselbe Verletzung ja schon im letzten April zugezogen hatte, im Grunde also schon länger raus ist als "nur" die sechs Monate seit dem zweiten Bruch des Mittelfußknochens.

Joachim Löw: "Wir brauchen ihn unbedingt"

Joachim Löw hat nicht gerade viele Baustellen in seinem luxuriös bestückten Kader. Aber die Torhüterfrage wird ein ganz entscheidender Faktor werden.

"Wir werden Manuel natürlich alle Möglichkeiten offenhalten. Er ist der beste Torhüter der Welt, unser Kapitän und mit seiner Ausstrahlung brauchen wir ihn unbedingt", sagte Löw zuletzt.

In der Pressekonferenz vor dem Spiel gegen Spanien hat Löw jetzt noch einmal bekräftigt, dass Neuer bis zur WM fit werde.

"Manuel liegt absolut im Fahrplan. Es ist geplant, dass er in dieser Saison noch für den FC Bayern spielt. Die Ärzte haben auch noch einmal versichert, dass der Zustand der Narbe und der Knochenzusammenwachsung absolut in Ordnung ist."

Aber auch der Bundestrainer weiß, dass er sich damit unter Umständen auf ein Vabanquespiel einlassen wird.

Wer soll bei der WM für Deutschland im Tor stehen?
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Neuer wird in der Schlussphase der Saison noch einige Spiele absolvieren, gerade in der Bundesliga dürfte das kein Problem sein. Den Bayern ist die Meisterschaft nur noch rechnerisch zu nehmen.

Aber auch beim Rekordmeister wird debattiert, ob Neuer in einem möglichen Champions-League-Halbfinale von Null auf Hundert funktionieren kann. Oder ob dann sogar Sven Ulreich, der quasi die komplette Saison das Tor der Bayern gehütet hat, auch dann zwischen den Pfosten stehen sollte.

Ulreich hat den Bayern mit guten Leistungen über den Verlust von Neuer hinweggeholfen. Aber Löw hätte nicht nur einen Ersatz, sondern den Kronprinzen längst in seiner Mannschaft.

Ter Stegen ist in der Weltspitze angekommen

Ter Stegen hat in Neuers Abwesenheit in Barcelona für Aufsehen gesorgt. Der ehemalige Gladbacher ist nicht nur längst die unangefochtene Nummer eins bei den Katalanen, sondern spielt die stärkste Saison seiner Karriere.

Er hat einen enormen Entwicklungsschub gemacht. Sein Spiel ist reifer, nicht mehr so riskant und fehlerbehaftet. Es waren auch ter Stegens Paraden, die Barca erst ein Pflichtspiel in der kompletten Saison haben verlieren lassen.

Im DFB-Dress hat sich ter Stegen nach einem holprigen Start mit schlimmen Fehlern längst stabilisiert.

Das alles weiß auch Löw, der jetzt sagte, dass ter Stegen im Fall der Fälle bereit stünde: "Die letzten Spiele waren sehr, sehr gut. Er hat beim Confed Cup eine überragende Rolle gespielt. Auch beim FC Barcelona ist er gewachsen. Er hat einen Reifeprozess gemacht und ist eine Persönlichkeit geworden. Er ist auf alles vorbereitet."

Ter Stegen selbst hält sich aus allen Debatten raus und gibt sich diplomatisch. "Natürlich habe ich den Anspruch zu spielen und irgendwann selbst die Nummer 1 zu sein. Aber man muss auch anerkennen und Respekt zeigen vor Mitspielern und Konkurrenten", sagte er dem "Kicker". "Manuel Neuer hat sich in den vergangenen Jahren eine sehr gute Position erarbeitet - und dieses Niveau will er halten, wenn er zurückkommt. Und so lange er seine Leistung bringt, hat er es auch verdient, die Nummer eins zu sein."

Das ist schließlich auch die entscheidende Frage, die sich Löw und sein Torwarttrainer Andreas Köpke stellen müssen: Kann Neuer - trotz monatelangem Ausfall und auch ohne Spielpraxis - seine Leistung bringen?

Eine Garantie darauf wird es nicht geben. Aber vielleicht hilft Neuer und dem Bundestrainer ja der Spielplan beim Endturnier. Mexiko, Schweden und Südkorea sind die deutschen Gegner in der Gruppenphase.

Bei allem Respekt vor diesen Teams sollten sie für den Titelverteidiger keine Stolpersteine auf dem Weg in die K.o.-Runde werden.

Manuel Neuer könnte sich in ein paar mittelschweren Partien herantasten und Sicherheit für das gewinnen, was danach in den Ausscheidungsspielen gefordert ist - nämlich Höchstleistung.

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