Riesendiskussionen in Ingolstadt: Gladbachs Lars Stindl erzielt ein Tor mit der Hand – doch der Schiedsrichter gibt den Treffer. Und das ist auch vertretbar. Denn Absicht liegt hier nach den Regeln nicht vor.
Auf dem Platz jubelte
Thomas Linke, der Ingolstädter Sportdirektor, war da ganz anderer Meinung. "Die Hand geht aktiv zum Ball", fand er. Deshalb sei "nur eine Entscheidung richtig: Handspiel". Der frühere Bayern-Profi sah sogar "Parallelen zum Fall Andreasen".
Eine Anspielung auf das Handtor, das der Däne Leon Andreasen im Oktober 2015 für Hannover 96 beim 1. FC Köln erzielt hatte. Der Schiedsrichter hatte die Regelwidrigkeit nicht gesehen und den Treffer gegeben. Daraufhin gab es tagelang heftige Debatten.
Hat Thomas Linke recht mit seinem Vergleich? Dazu muss man wissen, welche Kriterien die Regeln bei der Beurteilung eines Handspiels zugrunde legen. Entscheidend ist demnach einzig und allein die Absicht. Nur wenn sie vorliegt, bekommt der Gegner einen Freistoß (und im Strafraum einen Elfmeter).
Wie erkennt man die Absicht beim Handspiel?
Ob das Handspiel von einem Verteidiger bei einer Abwehr- oder von einem Angreifer bei einer Offensivaktion begangen wird, spielt dabei keine Rolle. Ebenfalls ohne Belang ist, ob ein Spieler durch das Handspiel einen Vorteil erlangt.
Doch wie soll der Schiedsrichter die Absicht erkennen? Deshalb gibt es eine Reihe von Anhaltspunkten, die zur Definition der Absicht beim Handspiel dienen.
Geht etwa die Hand oder der Arm aktiv zum Ball? Falls ja, spricht viel für ein absichtliches Handspiel. Das gilt auch, wenn die Hand vor das Gesicht gehalten, über den Kopf gehoben oder vom Körper abgespreizt wird, um den Ball abzulenken oder gar aufzuhalten. Dann spricht man von einer "unnatürlichen Körperhaltung" oder einer "Vergrößerung der Körperfläche".
Wenn die Hand- und Armhaltung jedoch einem normalen, das heißt fußballtypischen Bewegungsablauf entspricht, dann hat der Referee keinen Anlass, etwas zu unternehmen. Auch die Entfernung zum Ball ist ein Kriterium. Das heißt: Je geringer die Distanz, desto kürzer die Reaktionszeit – und desto unwahrscheinlicher, dass Absicht gegeben ist.
Stindl wollte eigentlich köpfen
Springt der Ball einem Spieler von einem anderen Körperteil unkontrolliert und unkontrollierbar an den Arm oder die Hand, sollen die Schiedsrichter – so will es der DFB – ebenfalls weiterspielen lassen. Und genau das ist am Sonntagnachmittag in Ingolstadt passiert.
Denn der Ball, der vom Kopf des Ingolstädters Marvin Matip zum ganz in der Nähe lauernden Stindl gekommen war, prallte zunächst gegen die Brust der Gladbachers und von dort unmittelbar gegen dessen rechten Unterarm, bevor er schließlich im Tor der Gastgeber landete.
Stindl hatte erkennbar darauf spekuliert, die Kugel mit dem Kopf zu treffen. Doch der von Matip abgefälschte Ball kam bei ihm tiefer als erwartet an, deshalb wirkte die Bewegung etwas unkoordiniert. Am Ende bugsierte der Gladbacher den Ball mit dem rechten Arm ins Tor.
Eine bewusste – und damit strafbare – Bewegung zum Ball? Oder ein ganz normaler Bewegungsablauf, mit dem Stindl nicht das Ziel verfolgte, den Ball auf unerlaubte Weise zu spielen, sondern nur das Gleichgewicht halten wollte?
Warum der Schiedsrichter Stindl nicht befragte
Eine komplexe, sehr schwierig einzuschätzende Situation. Berücksichtigt man aber vor allem die äußerst kurze Reaktionszeit für Stindl, nachdem der Ball unkontrolliert von seiner Brust abgeprallt war, wird man ihm wohl kaum Absicht unterstellen können. Dass Schiedsrichter Christian Dingert das Tor gab, ist daher zumindest vertretbar.
Im Fall Andreasen, den Sportdirektor Linke angeführt hatte, lagen die Dinge anders. Denn damals waren ohne jeden Zweifel alle Kriterien für ein absichtliches Handspiel erfüllt.
Kritik wurde seinerzeit daran laut, dass der Unparteiische den Spieler trotz der ungewöhnlich heftigen Proteste des Gegners nicht ausnahmsweise fragte, ob er den Ball absichtlich mit der Hand ins Tor befördert hatte.
Auch jetzt war diese Möglichkeit ein Gesprächsthema. Marvin Matip etwa berichtete nach dem Spiel von einer Unterhaltung, die er auf dem Feld mit Stindl hatte und bei dem der Gladbacher zum Ingolstädter gesagt haben soll: "Wenn der Schiri gefragt hätte, hätte ich Handspiel gesagt."
Christian Dingert hat aber nicht gefragt. Und es ist auch zweifelhaft, ob das etwas geändert hätte. Denn die sehr schwierige, aber entscheidende Einschätzung, ob Absicht vorlag, hätte Lars Stindl dem Schiedsrichter sowieso nicht abnehmen können. Das zu beurteilen, ist nun mal der Job des Unparteiischen.
Und auf dem Feld verfügt auch nur er über die erforderliche Kompetenz dazu.
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