Kritiker und auch viele Fußballfans befürchten, dass sich der moderne Fußball durch extreme Kommerzialisierung immer mehr von seinen Wurzeln entfernt. Nicht nur bei der jüngsten Zerstückelung des Spieltages geht es um mehr Geld durch höhere TV-Einnahmen, auch in anderen Bereichen rücken die Interessen der aktiven Fußball-Fans immer weiter in den Hintergrund. Darin liegt eine Gefahr für den Fußball, meint Fan-Experte Michael Gabriel von der Koordinationsstelle Fanprojekte im Gespräch mit unserer Redaktion.

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Herr Gabriel, ab der Saison 2017/2018 sieht ein Spieltag in der Fußball-Bundesliga noch zerpflückter aus, als er es momentan schon ist. Vor allem die Montagsspiele sind den Fans ein Dorn im Auge. Wie stark rumort es in der Fanszene?

Michael Gabriel: Die Proteste gegen die Spieltagszerstückelung haben schon eine lange Geschichte. Die bundesweite Initiative "Pro 15:30" hatte sich ja explizit so genannt, nun heißt sie "Pro Fans". Es ist eines der zentralen Themen, wenn nicht sogar das zentrale Thema aus dem Bereich Fankultur, wenn es um die Sorgen von Fans geht.

Seitens der DFL wird in der Argumentation auf wirtschaftliche Notwendigkeiten verwiesen. Das ist bis zu einem gewissen Grad legitim. Aber rechtfertigt das auch die extreme Unattraktivität eines Montagabendspiels für Auswärtsfans, wenn beispielsweise Hamburg gegen Freiburg spielt?

Das ist ein zentraler Aspekt. Der Montagabend-Termin hat eine ganz große symbolische Bedeutung und emotionalisiert enorm. Die Proteste gegen die Montagabendspiele in der zweiten Liga waren ja schon sehr intensiv und sind es bis heute. Andererseits belegen die Zuschauerzahlen nicht, dass das ein verlorener Termin wäre, weil die Leute einfach nicht mehr ins Stadion gehen würden.

Aber sie gehen doch nur, weil gerade die Auswärtsfans für den Fußball Opfer bringen, die erst der Montagabend abverlangt: Anfahrtsstress und Urlaubstage.

Ja, der Fußball ist offensichtlich trotz dieses schlechten Termins einfach so attraktiv, dass die Fans es trotzdem möglich machen, dorthin zu kommen. Der Protest wird ganz stark vom harten Kern der Fanszene getragen, von denjenigen, die auch auf Auswärtsspiele fahren. Und dieser Teil der Fanszene äußert verständlicherweise die größte Kritik an den Montagabendspielen. Nicht selten muss man ja gleich zwei Urlaubstage opfern oder die Nacht durchfahren, was ja auch nicht ungefährlich ist.

Wird hier nicht einfach die Leidenschaft und eben auch Leidensbereitschaft der Fußballfans wie selbstverständlich in den Businessplan einkalkuliert?

Das kann schon sein. Die DFL muss hier verschiedene, auch gegenläufige Interessen miteinander austarieren. Da ist beim Montagsspiel einerseits der sportliche Aspekt, um Mannschaften nicht wieder am Sonntag auf den Platz zu schicken, die noch am Donnerstag international gespielt haben. Andererseits will die DFL die Konkurrenzfähigkeit mit den anderen europäischen Ligen wahren und muss deshalb den Bedürfnissen der Fernsehanstalten entgegenkommen.

Um jeden Preis?

Das ist wohl die spannende Frage, wie weit man bei der Spieltagsansetzung die Leidensbereitschaft der Fans strapazieren kann, ohne dass sie diesem faszinierenden Sport den Rücken zuwenden. Einer der Hauptgründe für die Attraktivität des Fußballs in Deutschland ist, dass er für alle Bevölkerungsschichten zugänglich ist. Dass es sich jeder leisten kann, zum Fußball zu gehen. Der Fußball hat hier auch eine gesellschaftspolitische Verantwortung. Das ist beispielsweise in England nicht mehr gegeben. Dort sind Teile der Bevölkerung durch die hohen Ticketpreise vom Fußball ausgeschlossen.

Wie groß ist die Gefahr, dass diese Leidensbereitschaft der Fans tatsächlich überreizt wird?

Obwohl die aktuellen Zuschauerzahlen noch nicht dafür sprechen, sehe ich hier eine reale Gefahr, vor allem mit Blick auf den harten Kern der Fußballfans. Und das sind ja nicht nur Ultras, sondern generationenübergreifend enorm viele aktive Fußballfans. Für die ist Fußball weit mehr als nur ein austauschbarer Freizeitvertreib. Hier spürt man schon einen steigenden Verdruss am Fußballbusiness. Da spielen nicht nur die Spieltagsansetzungen eine Rolle, sondern beispielsweise auch die Skandale der "Fußballregierungen" - also DFB, UEFA und FIFA. Ebenso aber auch die aberwitzig asozialen Summen, die für Spieler gezahlt werden. An diesen Punkten werden die Spannungen sichtbar und die steigende Gefahr, dass sich diese Fans vom Fußball abwenden.

Fußballfunktionäre verteidigen ihre Entscheidungen mit den immer gleichen Argumenten. Es geht um Wirtschaftlichkeit und die zunehmende sportliche Belastung der Topmannschaften. Wieso bleiben Argumente zur Verteidigung der Fankultur so oft ungehört?

Die Vereine und auch die DFL bemühen sich schon, der Fankultur gerecht zu werden. Vor allem die Vereine haben den Dialog intensiviert. Ob das jedoch ausreicht und in der Fanszene auch tatsächlich ankommt, ist eine andere Frage.

Im Jahr 2013 gab es mit "12Doppelpunkt12" einen bundesweiten Fan-Protest, der sich gegen das neue Sicherheitskonzept richtete. Die Aktion war in der Umsetzung ein voller Erfolg. Wäre so etwas erneut denkbar?

Da bin ich momentan eher skeptisch. Für die Fanszenen spielen viele verschiedene Themen eine Rolle. Sie fühlen sich nicht nur beim Thema Kommerzialisierung unter Druck, sondern beispielsweise auch durch den Umgang der Polizei mit Fußballfans. Die Bereitschaft, sich für Themen der Fankultur zu engagieren, war lange Jahre enorm hoch, wie z.B. bei der Initiative für einen kontrollierten Einsatz von bengalischen Fackeln oder den vielen Demonstrationen für eine friedliche und bunte Fankultur.

Diese Motivation gibt es nicht mehr?

Das Problem ist, dass es aus der Perspektive der Fans keine spürbaren Erfolge zu verzeichnen gibt. Das hat Auswirkungen auf das weitere Engagement. Deshalb bin ich skeptisch, dass da aktuell viel Bereitschaft vorhanden ist, um konstruktiv für eine bunte Fankultur zu kämpfen. Ich befürchte viel mehr, dass wir zukünftig wieder mehr Konflikte erleben werden.

Gibt es aktuell eigentlich noch ein Forum, einen offenen Kanal zwischen DFL, DFB und aktiver Fanszene?

DFL und DFB hatten 2007 schon einen großen Fankongress organisiert, das sollte eine Zeitenwende werden. 2011 und 2015 wurde dann der Dialog von Fanseite frustriert aufgekündigt ...

... unter anderem, weil mit DFB-Sicherheitschef Helmut Spahn eine Vertrauensperson den DFB verlassen hatte und im Anschluss angebliche Absprachen seitens des DFB nicht eingehalten worden sein sollen. Da wurde viel Porzellan zerschlagen.

Ja genau, das war aber nur ein Grund. Aktuell gibt es aber wieder den neuen Versuch eines Dialoges zwischen DFB, DFL und den Fan-Verbänden. Dieser wird aber seitens der Ultra-orientierten Fan-Initiative "Pro Fans" boykottiert. Sie haben kein Zutrauen mehr in die Verbände.

Wieso werden Ultras eigentlich so schnell pauschal als Randalierer stigmatisiert, während das enorme soziale Engagement vieler Szenen vom Kampf gegen Rassismus über den Einsatz für Minderheiten bis zur Unterstützung von Krebshilfe-Einrichtungen geradezu totgeschwiegen wird?

Viele Vereine wissen das schon zu schätzen. Ich denke, beispielsweise der BVB weiß schon, was die Ultras für den Verein bedeuten ...

... die Vereine wissen es. Es wird aber kaum an die Öffentlichkeit getragen.

Bei den Ultras kommt dazu, dass sie das oftmals selbst auch nicht wollen. Viele Ultra-Gruppen sehen sich als Teil einer rebellischen Jugendkultur, was es den Vereinen auch nicht immer leicht macht. Allerdings ist Ihre Frage berechtigt, warum es nicht seitens des Fußballs größere eigene Anstrengungen gibt, das wertzuschätzen, was die Fankultur dem Fußball gibt. Man könnte das deutlich offensiver ins Schaufenster stellen.

Abschließend die Frage: Wenn Sie etwas verändern könnten, was würden Sie sich für die Zukunft der Fankultur in Deutschland wünschen?

Ich würde mir wünschen, dass man in den Vereinen das Potenzial von Fankultur noch besser erkennt. Denn das ist riesig. Es geht um eine unglaublich große Bereitschaft, sich für den Verein zu engagieren. Pragmatisch formuliert wäre es schön, wenn die Fanbetreuung eines Vereins die gleiche Personalstärke und Bedeutung hätte wie etwa die Marketingabteilung.

Mit welcher Konsequenz?

Damit wären die Rahmenbedingungen erfüllt, um die Bedeutung von Fankultur und die dort vorhandene riesige Bereitschaft, sich zu engagieren, zu nutzen. Denn davon profitieren nicht nur die Vereine, sondern weit darüber hinaus auch die Stadtgesellschaft. Das meine ich ganz speziell mit Blick auf eine gesellschaftliche Entwicklung, in der rassistische Ausgrenzung, Rechtsextremismus und Rechtspopulismus immer stärker werden. Das Engagement vieler Fans für eine vielfältige Fankultur, für eine offene Gesellschaft, für die Integration von Geflüchteten hat eine große Bedeutung. Ich würde mir wünschen, dass man sich nicht nur bei den Vereinen, sondern auch bei der Politik der Fankultur mit mehr Offenheit zuwendet.

Michael Gabriel ist Leiter der der Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS) in Frankfurt. Die KOS wurde 1993 eingerichtet, um die sozialpädagogisch arbeitenden Fanprojekte inhaltlich zu begleiten, zu koordinieren und bei der Einrichtung weiterer Projekte mitzuwirken. dabei geht es auch um Intervention und Vermittlungsarbeit bei Konflikten rund um den Fußball.
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