• Als 2011 die Langzeitherrscher Ben Ali, Mubarak, Sali und al-Gaddafi gestürzt wurden, war die Euphorie groß: Der Arabische Frühling versprach, junge Demokratien zu schaffen und zum Blühen zu bringen.
  • Doch die Hoffnungen haben sich nicht erfüllt.
  • In vielen Ländern hat sich die Lage sogar verschlechtert.

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Er war der Erste, der abtreten musste: Der tunesische Machthaber Ben Ali wurde vor zehn Jahren im Zuge des Arabischen Frühlings nach einer Langzeitherrschaft von 23 Jahren gestürzt. Zuvor hatte sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi im zentraltunesischen Sidi Bouzid selbst angezündet und damit eine Protestwelle losgetreten.

Die Nachricht verbreitete sich rasend, mobilisierte die Massen und motivierte die übrige arabische Welt zur Rebellion. Dem Diktator Ben Ali folgten weitere: Weder der ägyptische Präsident Husni Mubarak noch Jemens Staatschef Ali Abdullah Salih und auch nicht der libysche Machthaber Muammar al-Gaddafi konnten sich halten. Mehr Demokratie und Menschenrechte, bessere soziale Bedingungen – das waren die Forderungen der damaligen Demonstranten.

Hat der Arabische Frühling die erhofften Früchte getragen?

Arabischer Frühling: Frustration und Resignation

Günter Meyer, Leiter des Zentrums für Forschung zur arabischen Welt an der Universität Mainz, sagt: "Von der einstigen Euphorie und Aufbruchsstimmung des Arabischen Frühlings ist heute nichts mehr zu spüren."

Frustration und Resignation über die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, über steigende Arbeitslosigkeit, anhaltende Korruption und die Verhärtung der politischen Zwänge dominierten hingegen bei großen Teilen der arabischen Bevölkerung.

"Nur in Tunesien hat es eine dauerhafte Hinwendung zur Demokratie und Sicherung der Menschenrechte gegeben", bilanziert der Experte. In allen anderen betroffenen arabischen Ländern – etwa Algerien, Jordanien und dem Irak – hätten sich Demokratie und Menschenrechte nicht weiterentwickelt. Teilweise habe sich die Situation sogar verschlechtert: In Libyen, Syrien und im Jemen toben Bürgerkriege, in denen gewaltsam gegen jegliche Opposition vorgegangen wird.

Verschlechterung in vielen Ländern

"Nach einer kurzfristigen Verbesserung hat sich auch in Ägypten die politische Lage durch die Machtübernahme des Militärs wieder verschärft. In Bahrain hat sich die politische Lage von Anfang an in Richtung eines wesentlich autokratischeren Vorgehens der herrschenden sunnitischen Minderheit gegenüber der schiitischen Mehrheit der einheimischen Bevölkerung verschlechtert", sagt Meyer.

Und selbst in Tunesien – von westlichen Politikern gern als "Leuchtturm" bezeichnet – herrscht in der Bevölkerung Unmut. "Das gravierendste Problem ist die schlechte wirtschaftliche Lage des Landes. Zu den wichtigsten Forderungen der Protestierenden während des Arabischen Frühlings gehörten mehr Arbeitsplätze, berufliche Aufstiegschancen und eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lebensbedingungen. Nichts davon konnte erreicht werden", sagt Meyer.

Dramatische Verschärfung durch COVID-19

Die zunehmende Frustration der Bevölkerung schlage sich in wachsenden Spannungen zwischen den politischen Parteien sowie in Protesten und Streiks in den Schlüsselindustrien des Landes nieder, insbesondere im Phosphatbergbau und in dem im Aufbau befindlichen Erdöl- und Gassektor.

"Dramatisch verschärft wird die Lage durch die Folgen von COVID-19, vor allem durch den Zusammenbruch des Tourismus", warnt Meyer. Im Hinterland, dort, wo der Arabische Frühling begann, habe sich die wirtschaftliche Situation so sehr verschlechtert, dass die Abwanderung in die Küstenstädte massiv zunimmt und immer mehr Jugendliche nur noch in der Überquerung des Mittelmeers nach Europa eine Perspektive sehen.

Voraussetzungen waren vielversprechend

Dabei waren die Voraussetzungen 2011 vielversprechend: Die Zivilgesellschaft war aktiv, die politischen Führer waren pragmatisch, die Frauenorganisation war stark und die Gewerkschaften lang etabliert. "Außerdem nahm das Militär eine neutrale Haltung ein und ausländische Interventionen unterblieben weitgehend", beschreibt Meyer.

In anderen arabischen Staaten fehlten diese Rahmenbedingungen. "Allen gemeinsam aber waren autokratische Regime, meist verbunden mit Korruption und Vetternwirtschaft sowie hoher Arbeitslosigkeit der jungen Bevölkerung im Alter unter 30 Jahren, die bis zu 40 Prozent aller Einwohner stellte", erinnert Meyer.

Welche Wege die anderen arabischen Staaten abseits von Tunesien nahmen, zeigen die folgenden Beispiele:

Beispiel Ägypten: Demokratisches Zwischenspiel

Nachdem Mubarak durch das Militär gestürzt wurde, brachten demokratische Wahlen den Sieg islamistischer Parteien und die Muslimbruderschaft übernahm mit Präsident Mohammed Mursi die Macht.

Doch das währte nicht lang: "Das Militär beendete das demokratische Zwischenspiel mit einem Putsch, tötete Hunderte von Muslimbrüdern und nahm Zehntausende von ihnen gefangen. Nach scheindemokratischen Wahlen übernahm Abd al-Fattah as-Sisi, der ehemalige Oberbefehlshaber der ägyptischen Streitkräfte, das Amt des Präsidenten", erzählt Experte Meyer.

Der regiert noch immer – und das nicht weniger autokratisch, als vor dem Arabischen Frühling "Zugleich verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage des größten Teils der inzwischen auf mehr als 100 Millionen angewachsenen Bevölkerung weiter", weiß Meyer.

Beispiel Libyen: Schwer bewaffnete Milizen führen Stellvertreterkrieg

Gaddafis Sturz war vor allem der militärischen Allianz von europäischen und arabischen Staaten unter Führung der USA zu verdanken. "Doch die anschließende demokratische Phase mündete 2014 in einem erneuten Bürgerkrieg", sagt Meyer.

Dabei stünden sich heute zwei Regierungen in West- und Ostlibyen gegenüber: unterstützt durch schwerbewaffnete einheimische Milizen und ausländische Militärmächte.

"Zwar laufen gegenwärtig diplomatische Verhandlungen über eine Beilegung dieses Bürger- und Stellvertreterkriegs. Wie hier eine neue politische Ordnung durchgesetzt werden kann, ist jedoch noch völlig offen", sagt Meyer.

Beispiele Syrien und Jemen: Bürgerkriege

Ungleich dramatischer seien die Folgen des Arabischen Frühlings im Jemen und in Syrien. Der Nachfolger des Ex-Präsidenten Salih im Jemen sei zu schwach gewesen, um demokratische Reformen durchzusetzen. "Das Ergebnis war auch hier ein Bürger- und Stellvertreterkrieg, der eines der ärmsten Länder der Welt noch weiter ins Elend gestürzt hat."

In Syrien ist derweil noch immer das Assad-Regime an der Macht: "Es herrscht über etwa zwei Drittel eines weitgehend kriegszerstörten und wirtschaftlich am Boden liegenden Landes, in dem etwa 500.000 Menschen getötet wurden, während mehr als die Hälfte der Bevölkerung innerhalb des Landes aus ihren Wohnungen vertrieben wurde oder ins Ausland geflüchtet ist", sagt Meyer.

Dagegen sei es den meisten anderen Herrschern gelungen, die Proteste im Rahmen des Arabischen Frühlings mit dem Einsatz ihrer Sicherheitskräfte und eher kosmetischen Reformen zu beenden. "So kündigte beispielsweise der König von Marokko moderate Verfassungsreformen an und ließ Wahlen durchführen. Im Oman gelang es vor allem durch die Anhebung der Mindestlöhne und geringfügige demokratische Reformen, die Unruhen beizulegen", sagt der Experte.

Die Forderungen sind gleichgeblieben

Die erdgas- und erdölreichen Golfstaaten Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate seien sogar völlig von den Unruhen vor zehn Jahren verschont geblieben – denn die einheimische Bevölkerung werde von den Herrschern großzügig am Reichtum des Landes beteiligt.

"Mehr als 85 Prozent der Einwohner sind ausländische Arbeitnehmer mit ihren Angehörigen. Sie wissen, dass sie bei jeglichem Protest oder Demonstrationen sofort abgeschoben werden. Deshalb sind Unruhen hier am wenigsten zu erwarten", schätzt Meyer.

Doch die Forderungen, die die Bürger in der arabischen Welt haben, sind dieselben geblieben: Arbeit, Freiheit, nationale Würde! Meyer weiß: "Viele erwarten, dass die Revolution weitergeht und jederzeit neu losbrechen kann."

Über den Experten: Prof. Dr. Günter Meyer ist Leiter des Zentrums für Forschung zur arabischen Welt an der Universität Mainz.

Verwendete Quelle:

  • Interview mit Prof. Dr. Günter Meyer
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