Die politische Stimmung in der Ukraine ist durchwachsen. Einerseits vertrauen die Menschen weiterhin auf den Sieg gegen den Angreifer Russland, dennoch sinkt die Zustimmung für den Präsidenten. Der will nun die Führung im Land umbauen – und die wohl beliebteste Figur, Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj, loswerden.
In der Ukraine dreht sich politisch mittlerweile der Wind. Angriffe auf Großstädte nehmen zu, russische Truppen machen langsame, aber stetige Fortschritte an den Frontabschnitten im Osten des Landes, Präsident Wolodymyr Selenskyj will die politische und militärische Führung umbauen – aber scheitert offenbar beim ersten Versuch, den Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj zu feuern. Das politische Klima dreht sich im Kreis und weist noch einmal mehr auf die Verwerfungen im Land hin.
Meinungsumfragen geben unterschiedlichste Einblicke in die politische Stimmung im Land. Einerseits sind laut einer Umfrage der Democratic Initiatives Foundation (DIF) ukrainische Bürgerinnen und Bürger noch immer zuversichtlich. 88 Prozent der Bevölkerung gehen demnach von einem Sieg gegen den Angreifer Russland aus. Die Menschen blicken zudem hoffnungsvoll auf ihre persönliche Zukunft, doch ihre Angst ist im Vergleich zum Vorjahr ebenfalls gestiegen. 75 Prozent der Befragten gab zudem an, dass sich ihr Leben seit der Invasion 2022 verschlechtert hat.
Vertrauen in Selenskyj sinkt
Andererseits hat sich das Bild nach innen drastisch geändert. Nicht zuletzt, weil sich Selenskyj mittlerweile wohl nach und nach unbeliebter bei der Bevölkerung macht.
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Das Vertrauen in den Präsidenten sinkt, während die Menschen dem Oberbefehlshaber Saluschnyj immer mehr Vertrauen schenken. Einer Umfrage des Kyiv International Institute of Sociology zufolge ist Saluschnyj quasi die beliebteste Figur im Land. Dennoch sieht es so aus, als wolle man auf der politischen Bühne Köpfe rollen sehen, nachdem die groß angekündigte Gegenoffensive im vergangenen Jahr so viel versprach – aber viel zu wenig lieferte.
Am vergangenen Montag ploppten dann Gerüchte auf: Es habe ein Treffen zwischen Selenskyj und Saluschnyj gegeben. Dabei habe der Präsident dem Oberbefehlshaber die Nachricht der Entlassung persönlich überbringen wollen. Doch der habe sich geweigert, freiwillig abzutreten. Daraufhin soll Selenskyj sein Vorhaben zunächst einmal zurückgezogen haben.
Für Selenskyj wird die Luft langsam dünn – das ist vermutlich auch der Grund für seinen Rückzieher in Sachen Saluschnyj. Europäische Beobachter blicken bereits seit längerem mit Sorge auf Selenskyjs Personalentscheidungen. Einige fragen sich, ob der Präsident versucht, mögliche Konkurrenz aus dem Weg zu räumen, bevor sie ihm gefährlich werden könnte.
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Sorge: Will Selenskyj Konkurrenz ausschalten?
Ein Beispiel ist die Entlassung des damaligen Verteidigungsministers Oleksij Resnikow. Zunächst wurden viele seiner Mitarbeiter der Korruption beschuldigt. Später verlor der Minister seinen Posten. Und schon bevor dies passierte, äußerte etwa die Grünen-Europapolitikerin Viola von Cramon in einem Interview mit dem Nachrichtenportal "watson" die Sorge, dass es möglicherweise nicht um Korruptionsbekämpfung gehe, sondern darum, "politische Nebenbuhler zu diskreditieren".
"Es kann sein, dass zum Beispiel Verteidigungsminister Resnikow ausgetauscht werden soll. Dafür wird ein Grund gesucht. Als Sündenbock werden dann die Rekrutierungszentren in den Fokus genommen", sagte sie dem Portal.
Für den Oberbefehlshaber Saluschnyj könnte Selenskyj eine ähnliche Zukunft bereithalten. Etwas in der Art kündigte er auch kürzlich in einem Interview mit dem italienischen Nachrichtensender Rai an. Demnach will er die Landesführung umbauen. Ein Austausch politischer und militärischer Vertreter sei notwendig, sagte er.
Saluschnyj fordert mehr Unterstützung
Saluschnyj und Selenskyj sind in der Vergangenheit immer wieder aneinandergeraten. Nicht zuletzt, weil der Militärchef die Politik des Präsidenten zunehmend kritisierte. Im November 2023 sprach er sogar von einer Pattsituation im Krieg. Nun veröffentlichte er bei dem US-amerikanischen Nachrichtensender CNN ein Meinungsstück zum neuen Design des Krieges, einer neuen Strategie und zu neuen Forderungen an die Regierung.
Seine Strategie zielt demnach darauf ab, die personelle und militärische Unterlegenheit der Ukrainer auszugleichen. Gelingen soll dies durch Innovationen und Anpassungen – durch technischen Fortschritt. Im gleichen Zug fordert er vom Staat eine neue "Philosophie" für die Vorbereitung und Durchführung von Militäroperationen. Damit die Streitkräfte neue Methoden und neue Technologien erlernen könnten, müsse ihnen auch der Weg dazu freigemacht werden – und die Mittel bereitgehalten. Kriegsanstrengungen müssten zudem überarbeitet werden. Er forderte ein "neues staatliches System der technologischen Umrüstung". Die militärische Forschung und Entwicklung müsse vom Staat besser und aktiver gefördert werden, genauso wie die Ausbildung der Soldaten und die Produktion und Wartung von technischem Gerät.
Stimmung in der Ukraine kippt
Sowohl die Verwerfungen innerhalb der ukrainischen Führung als auch die teils gescheiterte Gegenoffensive führen zu einem Umdenken in der Bevölkerung. Zwar gibt es noch keine aussagekräftigen Meinungsumfragen dazu, dennoch hört man immer häufiger, dass die Menschen mittlerweile wütend werden.
Zum einen, weil es noch immer keine genaue und zufriedenstellende Regelung zur Dienstzeit von Soldaten an der Front gibt – Frauen und Familien der Kämpfer protestieren seit Monaten für eine Demobilisierung, um ihren Männern, Vätern und Söhnen eine Pause zu gönnen. Zum anderen hört man in persönlichen Gesprächen immer häufiger, dass die Menschen von den Errungenschaften aus der Offensive 2023 enttäuscht sind. Der britischen Nachrichten- und Meinungsseite "Unherd" sagte etwa eine Ukrainerin: "Die Leute sagen, dass sie nicht für Selenskyj sterben wollen. Die Stimmung änderte sich im Herbst nach der Gegenoffensive. Unsere Politiker sagten viele Dinge, unter anderem, dass wir Melitopol befreien würden." Doch passiert sei nichts.
Verwendete Quellen:
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