Regelmäßig wird die zweitgrößte Stadt der Ukraine mit Gleitbomben und anderen Geschützen beschossen. Doch die Bewohner lassen sich nicht anmerken, dass sie in einem Gebiet leben, das wahrscheinlich das nächste große Ziel der russischen Truppen ist.

Eine Reportage
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Eindrücke und Einschätzungen von Joana Rettig . Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Selbst unter Beschuss bewahren viele die Ruhe. Es wirkt, als sei der Krieg bereits geübte Praxis. Gleichzeitig fliehen Tausende vor den Kämpfen in Wowtschanks und Lipzy – rund 30 Kilometer entfernt.

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Ein Knall. Dann noch einer. Und schwarzer Rauch zieht über die Stadt. Sirenen heulen, die Feuerwehr rückt an. Die Straßen sind noch immer belebt, auch wenn Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine, momentan wieder täglich unter Beschuss steht. Während am Freitag nach einem zweifachen Gleitbombenangriff im Industriegebiet nahe der Innenstadt zwei Hallen brennen, sitzt Serhii Hlopov mit seiner Frau und einem Freund vor einem kleinen Kiosk, trinkt eine Cola.

Ganz entspannt. Rund 300 Meter hinter ihm steht ein Fabrikgebäude in Flammen. Unbestätigten Berichten von Militärhelfern zufolge starben bei dem Angriff zwei Personen, 29 sollen verletzt worden sein.

Hlopov verschränkt die Arme, legt seine Ellbogen stützend auf dem Bauch ab. Seine Haut ist braun gebrannt, er trägt eine Schildkappe mit dem typischen Camouflage-Muster der Ukrainer – Digital-Tarn. "Das ist normal", sagt er mit Blick auf die Rauchwolke, die über der gesamten Stadt zu sehen ist. "Alles gut." Dann widmet er sich wieder seinen Begleiterinnen und Begleitern.

Serhii Hlopov
Serhii Hlopov (links) sitzt mit seinem Freund vor einem Laden, während hinter ihm eine Fabrikhalle brennt. © Joana Rettig

Charkiw regelmäßig mit Gleitbomben beschossen

Es ist ein seltsames Geräusch. Dieser Knall. Ein blecherner. Der Klang der Explosion einer Gleitbombe unterscheidet sich massiv von dem eines Marschflugkörpers oder einer Artillerierakete. Seit Wochen beschießen russische Einheiten die ostukrainische Stadt Charkiw – und auch die Region darum – mit Gleitbomben. Russland hat sie modifiziert, die Reichweite um viele Kilometer vergrößert.

Eine Gleitbombe wird von einem Flugzeug abgelassen. Sie hat weder einen Motor, noch einen anderen Antrieb und ist daher für die Luftabwehr kaum aufzuspüren. Sie hat keine Signatur, wie man es in militärischen Kreisen sagen würde. Wegen des fehlenden Antriebs ist sie auch zunächst nicht zu hören. Raketen pfeifen und rauschen, bevor sie einschlagen. Gleitbomben sind fast unhörbar, bis sie ihr Ziel erreicht haben. Dann erschallt dieser blecherne Knall. Am Freitagmittag schlugen wieder zwei dieser Bomben in der Innenstadt von Charkiw ein.

Der Großbrand nahe der Innenstadt in Charkiw. © Joana Rettig

Auch in den zwei Nächten davor waren in der Stadt mehrere Explosionen dieser Art zu hören. Doch die Bewohner lassen sich davon nicht abschrecken. Noch immer leben rund 1,3 Millionen Menschen in der Stadt im Osten der Ukraine. Der Beschuss wurde zur Normalität für sie. "Es ist weniger geworden", erklärt ein Fußgänger vor einem Café auf dem Konstytutsii Square in der Innenstadt Charkiws. Bevor die Russen die neue Offensive auf die gesamte Region Charkiw gestartet hatten, waren die Angriffe in der Stadt viel häufiger, sagt er, zieht noch einmal an seiner Zigarette – und geht weiter.

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Russland übt massiven Druck auf Region aus

Am Donnerstag feierte die Ukraine den Wyschywanka-Tag, der die ukrainische Tracht ehrt. Bunte Strickmuster bewegen sich auf den Straßen und Cafés Charkiws. Die Menschen, die sie tragen, tragen sie mit Stolz. In einem Einkaufszentrum tanzen Kinder in ihrer Tracht zu einem ukrainischen Volkslied. Die Sonne scheint, Charkiw wirkt glücklich.

Dass russische Truppen derzeit massiv Druck ausüben, um näher an die Stadt heranzukommen, lassen sich die Bewohnerinnen und Bewohner kaum anmerken. Rund 30 Kilometer entfernt toben derzeit heftige Kämpfe. Nördlich der Stadt Charkiw stehen russische Truppen Berichten zufolge bereits vor dem Dorf Lipzy. Die Kleinstadt Wowtschansk, rund 50 Kilometer nordöstlich von Charkiw, und die umliegenden Wälder stehen seit Tagen in Flammen. Tausende Menschen flohen innerhalb weniger Tage, nachdem Russland die neue Offensive auf die Oblast gestartet hatte.

Dass Charkiw mit großer Wahrscheinlichkeit erneut das große Ziel der russischen Föderation ist, wollen die Menschen aber offenbar nicht wahrhaben. Oder sie haben sich mittlerweile wieder daran gewöhnt, wie Serhii, der sich die Ruhe nicht einmal von einem Großbrand direkt in seiner Nähe nehmen lässt.

Streubomben bei Wowtschansk

Bereits zu Beginn der russischen Invasion war die Stadt umkämpft. Damals hatten Moskaus Truppen innerhalb weniger Tage das gesamte Gebiet nordöstlich der Stadt eingenommen. Charkiw liegt nur rund 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt.

Bewohnerinnen und Bewohner der Dörfer sehen die Situation allerdings anders. Viele suchen derzeit Schutz vor dem russischen Beschuss. Laut dem Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, Oleksandr Lytvynenko, sind rund 30.000 russische Soldaten an der am 10. Mai gestarteten neuen Bodenoffensive beteiligt, wie das Nachrichtenportal des "Kyiv Independent" zitiert. Erste Berichte über Gefangennahmen von Zivilisten und Folterungen machen die Runde, das bestätigte auch der ukrainische Innenminister Ihor Klymenko auf seinem Telegramkanal.

In der Nähe von Wowtschansk wurde bereits ein Sammelpunkt für Geflüchtete mit Streumunition beschossen, bei dem fünf Menschen verletzt wurden.

Verwendete Quellen

Satellitenbilder zeigen erfolgreichen Schlag gegen Kreml-Basis auf der Krim

Kiew hat diese Woche offenbar gleich zweimal den Militärflugplatz Belbek auf der von Russland besetzten Halbinsel Krim attackiert. Während der Kreml nur die Abwehr der Angriffe bestätigte, belegen Satellitenbilder nun weitreichende Zerstörungen auf dem Luftwaffenstützpunkt. Die Basis befindet sich weit hinter der Front bei Sewastopol und dient als Ausgangspunkt für Moskaus Luftangriffe auf die Ukraine.
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