Daryna Shevchenko ist CEO des "Kyiv Independent". Ihre Mission ist es, die Welt über die Ukraine aufzuklären. Unsere Autorin hat Shevchenko in Kyiv getroffen.

Ein Porträt
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Joana Rettig sowie ggf. von Expertinnen oder Experten. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

"Fuck …", flüstert sie und atmet schwer aus. Sie blickt mit aufgerissenen Augen nach oben, als ob sie die aufsteigenden Tränen wieder zurückfließen lassen wollte. Doch sie kommen nicht. Pause. Drei, vier Sekunden. Dann spricht Daryna Shevchenko weiter über die Gräueltaten russischer Soldaten in der Ukraine – und warum sie als Chefin des internationalen Onlinemediums "Kyiv Independent" so wütend ist auf die Außenwelt.

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Eine Außenwelt, die die Ukraine offenbar nicht versteht. Die wenig weiß über die vielen Protestbewegungen des Landes, über die Gesellschaft und ihre Kultur. Eine Außenwelt, die die jahrhundertelange Tyrannei Russlands gegenüber seiner Nachbarin Ukraine offenbar vergessen hat. "Die Menschen verstehen die Zusammenhänge nicht", sagt Shevchenko.

Sie sitzt in einem Besprechungsraum in Kyivs Innenstadt. Ihre blau lackierten Fingernägel tippen hastig auf den weißen Rundtisch vor ihr. "Sie wissen nur, was die Russen ihnen über ihr politisches System, ihre Gesellschaft und all das erzählen wollen. Aber wir haben tatsächlich Erfahrung mit den Russen, wir sind seit Hunderten von Jahren ihre Nachbarn."

Shevchenkos Aufgabe: Kontext über die Ukraine liefern

Um das Gebäude herum sitzen schicke Menschen in Cafés und auf Hotelterrassen, genießen den warmen Tag im Juni mit Espresso Tonic und Hafer-Cappuccino. Im Büro selbst ist es vergleichsweise dunkel. Stromausfall. Der Generator reicht für die Computer und ein paar Lichter. "Im Winter ist es hier meist richtig kalt", sagt die Medienchefin.

Hinter ihr leuchtet ein orangefarbenes Licht durch ein milchiges Glas, das den Besprechungsraum von der Redaktion des "Kyiv Independent" trennt. Dort arbeiten Shevchenkos Kolleginnen und Kollegen. Die Geschäftsführerin ist 34 Jahre alt, ähnlich jung sind ihre Mitarbeitenden. Sie alle haben es sich zur Aufgabe gemacht, eine Brücke zu sein: zwischen der "Außenwelt", wie Shevchenko es nennt, und der Ukraine. Der Welt wollen sie mehr Kontext und Wissen über die Ukraine vermitteln – und veröffentlichen daher all ihre Inhalte auf Englisch.

Die junge Frau mit der schwarzen, übergroßen Kunststoffbrille und den blonden Strähnen zwischen den dunklen Locken hat bereits einen langen Karriereweg hinter sich. 2011 bis 2017 arbeitete sie bei der "Kyiv Post" in verschiedenen Rollen, parallel dazu leitete sie die Nichtregierungsorganisation Stiftung für Medienentwicklung, die sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen gründete.

Später wechselte Shevchenko zu einem Fernsehsender und leitete dort die Abteilung für investigativen Journalismus. Danach arbeitete sie als Executive Producer bei der investigativen Agentur Slidstvo.Info und tauchte dort tiefer ins Medienmanagement ein. 2019 gründete sie mit Geschäftspartnern ein Beratungsunternehmen.

"Kyiv Independent" drei Monate vor Invasion Russlands gegründet

2021 kollabierte die "Kyiv Post", die Mitarbeiter wurden entlassen. Shevchenko war bereits seit zwei Jahren ausgeschieden, doch sie sprang ein, wollte ihren ehemaligen Kollegen dabei helfen, ein neues Unternehmen zu gründen. So entstand der "Kyiv Independent" im November 2021, nur drei Monate vor der Invasion Russlands in die Ukraine.

Und die neue Nachrichtenseite wuchs schnell zu einem der meistzitierten Medien weltweit an. Die Journalistinnen und Journalisten des jungen Mediums hielten sich in den umkämpftesten Regionen der Ukraine auf, berichteten in Wort, Bild und Video. Rund um die Uhr, erklärt Shevchenko, habe man Nachrichten zum Krieg veröffentlicht.

Dass das Medium so schnell gewachsen ist, war kein Zufall, sagt Shevchenko heute. Man habe den Krieg erwartet – und sei vorbereitet gewesen. Kommunikationsstrategien, eine schnelle, flexible Redaktion, die Nutzung der Weltsprache: So konnte der "Kyiv Independent" in nur wenigen Monaten groß werden. Heute besteht das Team, das 2021 mit 18 Menschen gestartet ist, aus mehr als 60 Mitarbeitenden. Immer die Mission im Hinterkopf: die Brücke zur Welt sein.

Doch auch wenn Shevchenko diese Mission verinnerlicht hat: Es fällt ihr zunehmend schwer, wieder und wieder das Gleiche zu erklären. "Ich erinnere mich an diese Google-Konferenz in Bratislava", erzählt sie – nicht wissend, ob sie gerade lachen oder weinen soll. Sie entscheidet sich für ersteres, denn irgendwie sei das ja alles auch ein bisschen lustig. Auf dieser Konferenz habe sie sich mit Freunden und Kolleginnen über die Ukraine unterhalten. Bis eine Amerikanerin ihr ins Wort fiel. "Aber die Russen sterben auch", soll sie gesagt haben. "Welche Russen?", fragte Shevchenko und die Amerikanerin antwortete: "Nun, die Soldaten."

"Ich stand auf, ging die Treppe hinunter, rauchte eine Zigarette und fing an zu weinen."

Daryna Shevchenko

"In diesem Moment dachte ich, ich würde zusammenbrechen", sagt die 34-Jährige. Ihr Freund sei eingesprungen, habe der Amerikanerin erklärt, warum die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht um die Toten auf der russischen Seite trauern. Shevchenko verließ wortlos den Raum. "Ich stand auf, ging die Treppe hinunter, rauchte eine Zigarette und fing an zu weinen." Immer und immer wieder dieselben Diskussionen, rauf und runter. Diese Ignoranz. "Dann denke ich: Die Russen sterben auch? Ja, je mehr, desto besser. Willst du, dass wir ihnen das Leben retten? Sie sind gekommen, um uns zu töten!" Mehr noch: "Zu foltern und zu vergewaltigen." Womit wir wieder beim Anfang dieses Textes wären. "Fuck …"

Shevchenko ist im Grunde eine starke Persönlichkeit. Mit ihren fast 35 Jahren fliegt sie um den gesamten Globus, sitzt in Besprechungen mit den weißen, alten, männlichen Medienmogulen der Welt, muss sich behaupten – und tut das auch. "Man muss hart bleiben. Und das bin ich", sagt sie. "Aber ich muss mich nicht 'zum Mann machen', um diese Rolle zu erfüllen."

Dennoch ist eben manchmal die Frustrationsgrenze erreicht. Dann fehlt ihr einfach die Kraft. Dann kann sie nicht mehr. Würde sie die Ukraine dauerhaft verlassen, würden sie all diese Erklärungen umbringen, sagt sie. Auch wenn sie im Gespräch darauf beharrt: "Ich weiß, dass es meine Mission ist, und ich gebe sie nicht auf. Ich reise weiter, ich erkläre weiter." Aufstehen. Weitermachen.

Eine andere Art von Aufklärung fällt ihr da deutlich leichter. Und zwar die über Geheimdienste und Behörden, die ihre Profession zuletzt versucht haben, verstärkt unter Druck zu setzen.

Ein Date mit dem Geheimdienst

Auch der "Kyiv Independent" war Teil der Skandale um die Pressefreiheit, wie Shevchenko berichtet. 2022 veröffentlichte das Team Enthüllungen über Fehlverhalten und Korruption innerhalb der Internationalen Legion, einer ukrainischen Armeeeinheit, die sich aus ausländischen Kämpfern zusammensetzt. Ironischerweise war es der "Kyiv Independent", der anfangs noch für die Legion geworben hatte. "Doch als wir herausfanden, dass es Korruption gibt, mussten wir das veröffentlichen", sagt Shevchenko.

Die Berichterstattung wurde allerdings nicht überall positiv aufgenommen. Weil sie die Behörden während des laufenden Krieges kritisiert hatten, seien die Journalisten als unpatriotisch bezeichnet worden, sogar von einigen ihrer Kollegen. Dennoch entschieden sie sich, die Geschichte zu bringen, ungeachtet der Konsequenzen.

Das blieb nicht ohne Folgen, der Inlandsgeheimdienst SBU nahm sich der Sache an. "Ein SBU-Beamter klopfte an unsere Tür und suchte nach mir. Ich war in der Mittagspause und das Team hat ihn nicht reingelassen", berichtet die 34-Jährige. Er habe auch nach Chefredakteurin Olga Rudenko gefragt, aber auch sie war nicht da. Später schickte er eine Nachricht, in der er scherzhaft die fehlende Gastfreundschaft des Teams kritisierte. Die Antwort Shevchenkos war knapp: Man sei gastfreundlich zu Leuten, die man einlade. Die kann sich beim Erzählen dieser Anekdote das Lachen nicht verkneifen.

Danach sei ein Treffen mit dem Geheimdienst vereinbart worden. Während des Gesprächs soll der SBU-Beamte zunächst versucht haben, den Termin als ein harmloses Kennenlernen darzustellen. Dann sei er zur Sache gekommen: "Sie bewegen sich auf Messers Schneide", soll er gewarnt haben. Das Team empfand dies als klare Drohung.

Wie lange gibt es die Redefreiheit noch?

Zuletzt hat es mehrere besorgniserregende Entwicklungen gegeben. Journalistinnen und Journalisten wurden abgehört, ein Enthüllungsautor von Slidstvo.info sollte per Einberufungsverfahren für seine Recherchen bestraft werden. Shevchenko erkennt darin einen gefährlichen Trend. Noch gebe es die Redefreiheit, "aber sie ist ein kostbares und fragiles Gut, ein Privileg".

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Für Journalisten sei es zentral, ihre Wächterfunktion nicht zu verlieren. "Dieser Krieg ist im Wesentlichen ein Kampf zwischen Gut und Böse, wobei wir Ukrainer die gute Seite sind." Doch die Behörden gerieten leicht in Versuchung, sich ebenfalls mit dem Guten zu assoziieren. Die Aufgabe der Medien und der Zivilgesellschaft sei es, die Arbeit der staatlichen Akteure zu überwachen, so wie sie es früher getan haben, und die Medienfreiheit weiterhin zu schützen. "Meinungsfreiheit ist keine Selbstverständlichkeit, auch nicht in entwickelten Ländern."

Angst, sagt sie, habe sie keine. Bisher habe sich noch keiner ihrer Kollegen einschüchtern lassen. Noch habe der Versuch, Einfluss auf die Berichterstattung zu nehmen, keine Methode. Das erklärt sie sich vielmehr mit Inkompetenz und alter Schule. Strukturen wie der SBU stammten schließlich noch aus der Sowjet-Zeit. "Die hatten eine ganz andere Ausbildung und nutzen wahrscheinlich weiterhin einige der alten Methoden."

Verwendete Quellen

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