Auf dem Markt verkaufen sie frischen Fisch, Stricksocken und Elektrogeräte. Rauchende Männer stehen vor einem Shawarma-Laden und warten auf ihr Fastfood. Das LTE-Netz funktioniert, das Krankenhaus operiert. In Kupjansk, nur acht Kilometer von der Front entfernt, leben die Menschen ihr Leben weiter. Doch Russland macht nach und nach Geländegewinne – die Sorge der Bürger wächst.

Eine Reportage
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Eindrücke und Einschätzungen von Joana Rettig . Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Ruhe täuscht. Es ist Mitte Januar und Schnee liegt über Kupjansk. Der Winter taucht die Stadt im Osten der Ukraine in ein weißes, unscheinbares Kleid. Bedeckt sie, lässt sie fast schon friedlich wirken. Alles scheint still und leer. Doch weder das eine noch das andere trifft hier wirklich zu.

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Denn das Ausmaß der Zerstörung kann selbst der Schneeteppich nicht verbergen. Gigantische Löcher prangen inmitten der Plattenbausiedlung, liefern Einblicke in den aus Schock verlassenen Alltag der ehemaligen Bewohner. Ausgebrannte Autos, auf denen noch poröse Reste des russischen Kriegszeichens, des "Z", durchschimmern. Weit entfernt sind Einschläge russischer Artillerie zu hören, etwas näher die Abschüsse ukrainischer Waffen. Und währenddessen schlendern die Stadtbewohner bei eisigem Sonnenschein über den durchaus belebten Marktplatz.

Russland hat Kupjansk nie aufgegeben

Kupjansk ist eine Stadt, die seit Beginn des russischen Einmarsches in der Ukraine nicht zur Ruhe kommt. Erst wurde sie besetzt – das geschah am 27. Februar 2022. Der damalige Bürgermeister Gennadi Matsegora hatte die Administration schnell an russische Truppen übergeben. Seiner Ansicht nach, um unnötige Tode zu verhindern. Mit der Gegenoffensive der Ukrainer im September 2022 konnte Kupjansk zurückerobert werden. Matsegora verschwand zunächst von der Bildfläche und tauchte im Sommer 2023 in Belgorod, Russland, wieder auf. Doch Putin hat Kupjansk nie wirklich aufgegeben. Die Truppen aus dem Osten rücken wieder vor.

Von Kupjansk, das am nördlichen Ende der Frontlinie im Osten liegt, bis hinunter nach Kreminna wird der Druck der russischen Armee größer. Das Dorf Tabajiwka südöstlich von Kupjansk haben russische Truppen in der Nacht auf vergangenen Mittwoch unter ihre Kontrolle gebracht. Vermutet wird, dass Russland das gesamte Gebiet Luhansk wieder in seiner Hand haben und zudem den Fluss Oskil erreichen will, der auf der Höhe von Kupjansk in Nord-Süd-Richtung verläuft. Gelingt das, steigt der Druck auf die Großstadt Charkiw, denn die Invasoren könnten perspektivisch versuchen, weiter dorthin vorzudringen.

Eben dies hatten sowohl der ukrainische Geheimdienst SBU als auch verschiedene andere Behörden seit längerem auf dem Schirm. Innerhalb der Ukraine bereiten Sicherheitskräfte Hilfsorganisationen und Einwohner bereits seit Wochen auf eine mögliche zweite Invasion vor.

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Ukraine lässt Menschen nur mit Genehmigung in die Stadt

Doch noch ist in Kupjansk vergleichsweise wenig von dieser Bedrohung zu sehen. In einer Stadt, die Außenstehende wegen der Gefahr nur mit Sondergenehmigung betreten dürfen. Hier, acht Kilometer von den aktiven Kämpfen entfernt, lebt die Bevölkerung ihr Leben weiter. Zwei alte Männer in gräulich-schwarzen Daunenjacken stehen an der Hauptstraße und unterhalten sich – blicken zur Sonne, wirken entspannt.

Wie zivilisiert Kupjansk vor dem Hintergrund der aktuellen Bedrohungslage noch immer ist, zeigt ein Blick auf den Marktplatz: Fisch, Fleisch, Käse, Elektrogeräte, Stricksocken, geöffnete Cafés, Läden jeglicher Art wollen Kundinnen und Kunden mit Angebotsschildern begeistern. Menschen drücken sich in der schmalen Gasse aneinander vorbei. Soldaten mit roten Augen und schwarzen Händen streicheln Straßenhunde. Tagsüber sind die Einschläge weit entfernt. Nur in der Nacht, da wird es lauter.

Wohin man auch sieht, erhascht man Blicke auf militärische Einrichtungen. Etwas, das neben der Zerstörung dann doch wieder an den anhaltenden Krieg erinnert. Panzer, Mehrfachraketenwerfer, Häuser, in deren Vorgärten die Autos der Soldaten geparkt und abgedeckt sind. Doch die Einwohner haben sich mittlerweile daran gewöhnt. Auch der Shawarma-Laden an der Hauptstraße, der seit der Rückeroberung vermutlich mehr als die Hälfte seines Gewinns durch ukrainische Soldaten macht.

Fastfood, Internet und medizinische Versorgung

Hier lassen es sich Einwohner, Soldaten und Helfer gut gehen. Es gibt Burger, Pommes, Hot Dogs – und natürlich Shawarma. Im Laden ist es warm, es riecht nach Fett und Fleisch. Zwischendurch fällt zwar der Strom aus, doch nach drei Minuten leuchtet wieder das Licht, summt die Mikrowelle, klingelt die elektronische Kasse. Männer rauchen bei 18 Grad unter Null vor der Eingangstür, machen Witze, tippen auf ihren Handys herum.

Das Krankenhaus funktioniert weiterhin. Die Läden sind voll, teils zwar mit abgelaufener Ware, aber immerhin. Zwei humanitäre Hilfszentren bieten jenen Menschen Unterstützung, die kein Einkommen mehr haben.

Zerstörtes Gebäude in der Innenstadt von Kupjansk. © Joana Rettig

Dieses Bild einer in Anbetracht der Lage gut funktionierenden Stadt mit Strom, fließendem Wasser, LTE-Netz, mit Leben und zumindest dem Anschein von Freude – es wirkt absurd vor dem Hintergrund, dass genau im selben Augenblick russische Truppen alles dafür tun, diesen Frieden zu zerstören. Auch im Vergleich mit anderen Regionen ist die Gegend um Kupjansk einzigartig.

Ein Beispiel ist etwa die Front-Region um Avdiivka, im Süden des Oblast Donezk. Hier kämpfen Dörfer, die einen weitaus größeren Abstand zur Front haben, mit der Abschottung zur Außenwelt. Das Dorf Kalynowe liegt rund 15 Kilometer von der Kontaktlinie entfernt. Doch hier gibt es weder Strom noch Wasser - eine Internetverbindung erst recht nicht. Medizinische Grundversorgung wird nur durch Hilfsorganisationen geleistet, Essen und andere alltägliche Güter finden ihren Weg fast nur durch Spenden in die Gegend.

Sorge vor russischer Besatzung wächst

Doch auch, wenn die Infrastruktur in Kupjansk einen friedlichen und unbekümmerten Eindruck vermittelt – die Angst der Bevölkerung vor einer erneuten Einnahme der Stadt wächst.

Die Militäradministration fordert die Zivilbevölkerung seit Monaten wieder zur Flucht auf. Dass hierbei auch Dörfer westlich von Kupjansk angesprochen wurden, beunruhigt die Menschen. Bei der US-amerikanischen Denkfabrik "Institute for the Study of War" heißt es, ein ukrainischer Kommandeur habe erklärt, dass das Hauptziel der russischen Streitkräfte die Einnahme von Kupjansk-Vuzlovy (unmittelbar östlich von Kupjansk) und Kupjansk sei. Eine Einnahme von Synkiwka (nordöstlich von Kupjansk) soll den schnellsten Weg für die russischen Streitkräfte darstellen, um zu diesen Siedlungen vorzustoßen. Als wichtiger Eisenbahnknotenpunkt ist die Stadt ein langfristiges Ziel der russischen Militärführung.

Doch wie wertvoll Kupjansk strategisch ist, lässt sich die Stadt kaum anmerken.

Verwendete Quellen:

Frontbesuch: Selenskyj begutachtet Leopard-Panzer

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nimmt nach offiziellen Angaben bei einem Truppenbesuch im Frontabschnitt Kupjansk auch den Panzer Leopard 2 in Augenschein. (Foto: IMAGO / ZUMA Wire)
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