Seit 100 Jahren dürfen auch Frauen in Deutschland ihre Stimme an der Wahlurne abgeben. Aber gibt es ein typisch "weibliches Wahlverhalten"? Wählen Frauen moderater oder radikaler als Männer? Politikwissenschaftler Prof. Dr. Marschall erklärt im Interview die Unterschiede - und warum Frauen auch Politiker mit frauenfeindlichen Parolen wählen.

Ein Interview

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Wie wählen Frauen?

Prof. Dr. Stefan Marschall: Frauen wählen durchaus anders als Männer. Dabei spricht man vom sogenannten "Voting Gender Gap". Die Unterschiede im Wahlverhalten von Frauen und Männern haben sich in den letzten Jahrzehnten allerdings deutlich verkleinert.

Inwiefern wählen Frauen denn anders als Männer?

Frauen tendieren weniger dazu radikale und extreme Parteien zu wählen. Dieser Befund gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere Demokratien. Was man hingegen nicht ganz klar sagen kann, ist, ob Frauen eher links oder rechts wählen. In den ersten Jahrzehnten des Frauenwahlrechts konnte man beobachten, dass Frauen eher konservativer wählen, seit den 70er-Jahren sieht man eher eine Links-Tendenz im Wahlverhalten von Frauen.

Welche Ursachen stecken hinter dem unterschiedlichen Wahlverhalten?

Das unterschiedliche Wahlverhalten wurzelt in unterschiedlichen Lebenswelten. Als das Frauenwahlrecht eingeführt wurde, hatten Frauen wenig Kontakt zur Arbeitswelt und zu organisierten Gewerkschaften. Ihnen waren besonders Werte wie Religiosität sehr wichtig. Damit erklärt man das anfängliche konservativere Wahlverhalten.

Seit den 70er-Jahren hat sich das Ganze gedreht: Frauen haben im Bildungsbereich aufgeholt und sind prozentual häufiger berufstätig als damals. Dass Frauen heute linker wählen, wird auch damit erklärt, dass linke Parteien bestimmte Frauenthemen wie Chancengerechtigkeit samt Gender-Pay-Gap häufiger ansprechen.

Lassen sich auch Unterschiede in puncto Wahlbeteiligung feststellen?

Ja, zumindest in den ersten Jahrzehnten des Frauenwahlrechts konnte man sehen, dass die Wahlbeteiligung insbesondere von jungen Frauen höher war als die von Männern. Man erklärte es damit, dass das Gefühl, dass Wählen eine bürgerliche Pflicht ist, bei diesen Frauen stärker ausgeprägt war.

Bei den Bundestagswahlen seit 1949 lag die Beteiligung der Männer tendenziell über der der Frauen. In den letzten Jahren beobachten wir aber auch hier eine Annäherung der Wahlbeteiligungsquoten, sodass der Unterschied mittlerweile irrelevant ist. Jenseits der Wahl bezeichnen sich Frauen jedoch eher als politisch interessiert und werden seltener politisch aktiv, stellen sich also beispielsweise seltener selbst zur Wahl als Männer.

Setzen Frauen beim Wählen eher auf Person oder Inhalt?

Es gibt kein klares Muster, etwa, dass Frauen tendenziell Frauen wählen und Männer tendenziell Männer. Bei der ersten Wahl von Angela Merkel zur Bundeskanzlerin hat man festgestellt, dass ein solcher Automatismus nicht zutraf und auch ihr damaliger Gegenkandidat Gerhard Schröder durchaus von vielen Frauen unterstützt wurde. Das hängt also noch von anderen Faktoren ab. Was wir außerdem wissen: Frauen sind bestimmte Themen wichtiger als Männer - dazu zählen Familienpolitik, Bildung und Umweltschutz. Auch wenn es um Fragen der Migration und Integration geht haben Frauen tendenziell andere Ansichten als Männer. Frauen sind hier eher liberaler.

Wieso spielt die Kategorie "Geschlecht" bei den Wahlanalysen so selten eine Rolle?

Die Kategorie taucht gelegentlich auf, aber meist nur bei den genauen Analysen. Öffentlich diskutiert wird sie vor allem dann, wenn es spektakuläre Unterschiede gibt. Das ist zum Beispiel im Falle der AfD so: Sie wurde bei der Bundestagswahl deutlich häufiger von Männern gewählt. Die CDU wurde währenddessen stark von älteren Frauen getragen, die Grünen konnten bei jungen Wählerinnen punkten.

Man sollte nie nur isoliert das Geschlecht betrachten, sondern muss mehrere Faktoren, die zur Wahlentscheidung beitragen, miteinbeziehen. Unterschiedliche Lebensrealitäten kommen nicht nur durch das Geschlecht zustande, sondern unter Umständen noch viel maßgeblicher durch Bildung und Einkommen. Dennoch: Selbst wenn man diese Variablen herausrechnet, bleiben Unterschiede zwischen Männern und Frauen bestehen.

Warum wählen Frauen auch Politiker, die offenkundig frauenfeindlich sind, wie etwa Bolsonaro in Brasilien oder Trump in den USA?

Allgemein ist das Wahlverhalten sehr komplex und wird von vielen Dingen beeinflusst, auch von der konkreten Situation sowie der politischen Kultur in einem Land. Ebenso komplex ist seine Analyse. Man kann daher nur vermuten, dass das Frauenbild der Kandidaten für Wählerinnen nicht entscheidend war. Es ist als Faktor nicht immer gewichtig genug, um etwa gegen Parteipräferenzen oder politische Einstellungen anzukommen.

In Bezug auf die Wahl von Bolsonaro und Trump haben ideologische Positionen überlagert, dass die Wählerinnen in ihrer Rolle als Frau wählen. Bolsonaro hat auf traditionelle Werte gesetzt und damit die brasilianischen Frauen stark angesprochen. Seine Zustimmungsraten zeigen zudem, dass es keine radikale Wahl war, sondern eine Wahl, die in der Mitte der Gesellschaft stattgefunden hat - wofür Frauen ja erwiesenermaßen Präferenzen zeigen.

In den USA ist es so, dass Frauen generell häufiger Demokraten als Republikaner wählen. Das hat sich jüngst bei den Mid-Terms wieder gezeigt. Für die vielen Frauen, die Trump dennoch gewählt haben, waren ebenfalls andere Faktoren ausschlaggebender als sein Frauenbild: Sie wollten Protest gegen das Establishment signalisieren und haben dabei Trumps Haltung gegenüber Frauen ausgeblendet.

Prof. Dr. Stefan Marschall leitet seit 2010 den Lehrstuhl Politikwissenschaft II mit dem Schwerpunkt "Politisches System Deutschlands" an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Einer der Forschungsschwerpunkte ist dabei die Analyse des Wahl-O-Mat.
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