Nach den rassistischen Parolen, die eine Gruppe junger Menschen vor einem Sylter Club skandierte, steht die Frage nach dem "Warum" im Raum.
"Wir müssen Rassismus breiter denken", sagt Rassismusforscher Karim Fereidooni und erklärt im Interview, warum er vor Rassisten mit Anzug und Krawatte mehr Angst hat als vor Nazis in Springerstiefeln.
Das Sylt-Video, in dem junge Menschen rassistische Parolen skandieren, ist um die Welt gegangen. Sind die Menschen, die darin zu sehen sind, Neonazis?
Karim Fereidooni: Nein, das sind keine Neonazis. Man muss kein Neonazi sein, um Rassismus zu reproduzieren. Hier hat die Mehrheit ein verkürztes Bild von Rassismus, wir müssen Rassismus breiter denken: Rassismus ist nicht nur das, was Menschen in Springerstiefeln von sich geben, sondern ist mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft salonfähig geworden. In dem Video sehen wir: Das sind keine alten, ostdeutschen Menschen am Rande der Gesellschaft. Wahrscheinlich schockiert uns das Video so, weil es keine Klischees zeigt, sondern wohlsituierte junge Menschen in Westdeutschland.
Mit Islamismus und Rechtsextremismus provozieren und schockieren
Die Menschen in dem Video haben offensichtlich gefeiert. Das wäre auch zu anderer Musik möglich gewesen. Warum singen junge Menschen solche Parolen – wollen sie schockieren?
Die Motivationslagen müsste man natürlich bei denjenigen erfragen, die das gemacht haben. Aber aus meiner Sicht kann man in unserer Gesellschaft heute nur mit Islamismus oder Rechtsextremismus schockieren. Wenn man sich als 20-Jährige grüne Haare färbt oder kifft, schockiert man damit niemanden mehr. Das haben die Eltern zum Teil selbst gemacht. Islamismus und Rechtsextremismus haben ein Provokationspotenzial in unserer Gesellschaft.
Könnte Gruppenzwang eine Rolle gespielt haben?
Aufgrund des Alters – es sind keine Teenager – würde ich eher nicht von Gruppenzwang sprechen. Aber diese Gruppe hat sich vermutlich selbst hochgeschaukelt und sich gegenseitig Vertrauen geschenkt. In großen Gruppen trauen sich Leute mehr, nicht nur aus Gruppenzwang, sondern weil sie sich sicher fühlen, weil man in der Gruppe untergeht und weil man denkt, die anderen machen das schließlich auch. Damit hatten sie recht – bis das Video viral gegangen ist.
Ein Grund ist also auch, dass die Menschen wissen, dass sie damit durchkommen?
Genau. Im jetzigen Fall wurde das Ganze aufgenommen und die Strafverfolgungsbehörden werden tätig, weil ein Hitlergruß strafbar ist. Aber anscheinend hat sich in der Situation niemand vom Servicepersonal des Clubs oder von den Passanten gewundert. Der Außenbereich des Lokals ist nicht so groß, dass niemand das mitbekommen hätte.
Es fehlte also auch an Zivilcourage?
Ja. In diesem Video sieht man nicht nur Menschen, die betrunken sind und rassistische Dinge von sich geben, sondern man sieht auch sehr viele unbeteiligte Menschen. Die müssen was mitbekommen haben – und haben leider keine Zivilcourage gezeigt. Das ist das viel Diskussionswürdigere: Wir sollten über eine Kultur des Hinschauens reden, damit wir auch in der Lage sind, menschenfeindlichen Positionen etwas entgegensetzen zu können.
Hätte es etwas gebracht, als Einzelner einer alkoholisierten Gruppe entgegenzutreten?
Ich hätte nicht erwartet, dass jemand Einzelnes einschreitet und sagt: "Hört auf damit." Außenstehende haben vielleicht Angst, angegriffen zu werden. Was man aber auf jeden Fall hätte machen können, ist, zum Servicepersonal oder den Türstehern zu gehen oder im Zweifel die Polizei zu rufen. Clubs können auch aufhören, Musik zu spielen, wenn die Gefahr besteht, dass ein bestimmtes Musikstück missbraucht wird.
Sie haben eingangs von Rassismus in der Mitte der Gesellschaft gesprochen. Im jetzigen Fall haben wir es augenscheinlich mit Eliten zu tun. Welche Rolle spielt es, dass der Rassismus aus so einem elitären Bereich in der Gesellschaft kommt?
Da mache ich mir große Sorgen. Ich habe persönlich mehr Angst vor Rassisten in Anzug und Krawatte anstatt in Springerstiefeln. Denn diejenigen, die der Elite zugehörig sind, haben mehr gesellschaftliche Macht, um ihre rassistischen Sichtweisen auf wichtige gesellschaftliche Teilbereiche zu übertragen. Das betrifft zum Beispiel den Wohnungs-, Arbeits- oder Bildungsmarkt. Sie können gesellschaftlich viel stärker wirken als Menschen am sozialen Rand. Wir wissen aus unterschiedlichen Studien, dass ein hohes Einkommen und hoher Bildungsabschluss nicht davor schützen rassistisch zu sein.
Was hat dann einen Einfluss?
Zum Beispiel das Geschlecht. Männer sind in vielen Studien rassistischer als Frauen. In Bezug auf Antisemitismus spielt auch Religiosität eine Rolle. Je religiöser die Menschen, desto eher teilen sie antisemitische Einstellungen. Auch das Alter ist ein Einflussfaktor. Je älter die Personen sind, desto eher rassistisch äußern sie sich.
In dem Elite-Internat Louisenlund in Schleswig-Holstein sollen sich bei einer Schülerparty rassistische Gesänge ereignet haben. Ist das mit dem Sylt-Vorfall vergleichbar?
Das würde ich unterscheiden, da die Schülerinnen und Schüler, die die Parolen nachgeahmt haben, viel jünger waren. Schule sollte außerdem ein Schutzraum sein. Ich würde als Lehrkraft nicht die Polizei rufen, wenn meine Schülerinnen und Schüler das Lied singen, sondern ich würde mit pädagogischen Maßnahmen reagieren. Bei über 20-Jährigen, die im öffentlichen Raum so etwas grölen, ist das ein Skandal. Aber bei Schülerinnen und Schülern würde ich weder skandalisieren noch relativieren, sondern darüber reden. Man kann zum Beispiel auch über ein Pflichtpraktikum in einer Geflüchtetenunterkunft, einem jüdischen Museum oder einer Moschee nachdenken.
Wie ist es überhaupt passiert, dass Rassismus in der Mitte der Gesellschaft salonfähig geworden ist?
49 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung ist der Ansicht, dass es unterschiedliche Rassen gibt und 33 Prozent der Bevölkerung meint, dass einige Kulturen von Natur aus fleißiger sind als andere. Das sind Zahlen aus einer repräsentativen Studie, die im Auftrag der Bundesregierung veröffentlicht worden ist. Soll sagen: Rassismus war schon immer ein strukturelles Merkmal unserer Gesellschaft. Rassismus spielt bei Entscheidungssituationen auch heute immer eine Rolle.
Können Sie ein Beispiel geben?
Das ist die Wohnungssuche bis zur Partnerwahl. Wir sollten nicht unterschätzen, wie stark Rassismus in unserer Gesellschaft verankert ist. Allerdings haben viele Menschen den Luxus, sich den Zeitpunkt und Ort aussuchen zu können, wann Rassismus für sie eine Rolle spielt und sie darüber nachdenken. Das sind Menschen, die als weiß-deutsch gelesen werden. Für sie ist all das gerade vielleicht überraschend. Aber für Menschen, die selbst Rassismuserfahrungen machen, kommt das Video gar nicht überraschend. All die Dinge spielten früher auch schon eine Rolle, aber mit Smartphones gibt es heute die Möglichkeit, es aufzunehmen.
Rassismus ist also sichtbarer geworden?
Ja. Aber wir sollten nicht vergessen: Auch Antirassismus ist sichtbarer geworden. Erst vor einigen Wochen sind Hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen. Deshalb sollte man das Bild nicht einseitig zeichnen. Wir haben eine große Mehrheit, die sich gegen Rassismus engagiert. Auf der anderen Seite haben wir eine kleine aber laute Minderheit, die versucht, Rassismus salonfähig zu machen.
Über den Gesprächspartner
- Prof. Dr. Karim Fereidooni ist Professor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Rassismuskritik in pädagogischen Institutionen sowie politische Bildung in der Migrationsgesellschaft.
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