Wie lange wird der Ausnahmezustand wegen des Coronavirus noch dauern? Das kann und will bei Anne Will niemand sagen. Über ein interessantes mögliches Szenario wird dabei leider nicht diskutiert.

Eine Kritik

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Seit rund zwei Wochen ist das öffentliche Leben in Deutschland größtenteils stillgelegt, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Viele Bürgerinnen und Bürger haben sich irgendwie in ihrem Schicksal gefügt, die Kliniken sehen den Ansturm der Patienten noch vor sich. Trotzdem stellen immer mehr Menschen schon jetzt die Frage: Wie lange noch? Auch bei Anne Will steht sie am Sonntagabend im Mittelpunkt. Schließlich hatte sogar Gesundheitsminister Jens Spahn in der vergangenen Woche laut über Ausstiegsszenarien aus dem Ausnahmezustand nachgedacht. Doch eine Antwort auf die Frage gibt es an diesem Abend nicht.

Wer sind die Gäste bei Anne Will?

Susanne Johna: Die Vorsitzende der Ärztegewerkschaft Marburger Bund fordert vor allem eines: mehr Schutzkleidung für Mediziner und Pflegekräfte: "Die größte Sorge, die wir derzeit haben: Wie können wir das Personal, das wir brauchen, um die Patienten zu versorgen, auch weiterhin gesund halten?" Im Land der Ingenieure und Maschinenbauer müsse es möglich sein, Schutzmasken auch hierzulande in großem Stil herzustellen, findet sie.

Peter Tschentscher: Hamburgs Bürgermeister mahnt zu "Ruhe und Vernunft": Noch sei ein Ausstieg aus dem Ausnahmezustand viel zu früh, sagt der SPD-Politiker und Labormediziner und fragt: "Wollen wir die Wirksamkeit der Maßnahmen aufs Spiel setzen, indem wir jetzt unvorsichtig sind?"

Peter Altmaier: Der Bundeswirtschaftsminister wiederholt in der Sendung eine Einschätzung, die angesichts der vielen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Katastrophenmeldungen der vergangenen Tage und Wochen sehr gewagt klingt: Das Land werde aus dieser Krise stärker herausgehen, als es zuvor war. "Diesen Optimismus haben ich", sagt der CDU-Politiker.

Clemens Fuest: "Vielleicht droht uns auch eine Finanzkrise", sagt dagegen der Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Statt Kredite aufzunehmen und zu investieren, könne für bereits angeschlagene Unternehmen jetzt eine Insolvenz das attraktivste Modell sein, glaubt der Experte – und das könnte die Lasten dann auf die Banken verlagern.

Gérard Krause: Der Experte des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung ist kein Freund von Modellrechnungen. Er will kein Datum, keine Höhe der Ansteckungszahlen nennen, bei denen einen Abkehr von der jetzigen Situation denkbar wäre – und sagt stattdessen: "Das entscheidende Kriterium ist aus meiner Sicht: Wie stark ist das Gesundheitssystem belastet, überlastet oder in der Lage, mit der Situation umzugehen?"

Was ist der Moment des Abends?

In den vergangenen Tagen hatte die Politik laut über Handy-Tracking nachgedacht: Mit Hilfe von Handydaten wäre es möglich, Menschen zu finden, die mit Infizierten Kontakt hatten oder in ihrer Nähe waren. Für diese Idee hat der eigentlich sehr besonnene Epidemie-Experte Gérard Krause eine klare Meinung: Er lehnt sie entschieden ab.

Erstens sei die räumliche Nähe allein kein ausreichender Hinweis darauf, ob sich eine Person angesteckt haben könnte. Zweitens mache das den Menschen nur unnötig Angst. "Drittens halte ich es nicht für verhältnismäßig, weil hier doch ganz massiv in die Persönlichkeitsrechte eingegriffen wird. Bürgerrechte, die wir über Jahrhunderte hart erkämpft haben, werden hier zur Disposition gestellt", stellt Krause klar.

Was ist das Duell des Abends?

Einen wirklichen Streit gibt es nicht, wohl aber eine Meinungsverschiedenheit über ein Ausstiegsszenario aus dem "Shutdown". Wirtschaftsminister Altmaier wirbt für die Strategie: Jetzt die Zähne zusammenbeißen und dann durchstarten, statt die Wirtschaft schrittweise hoch- und dann wieder runterzufahren: "Wenn wir jetzt ein bisschen länger durchhalten, können wir die Kurve vielleicht so abflachen, dass die Wirtschaft früher wieder in Gang kommt."

Den Wirtschaftsfachmann Clemens Fuest überzeugt das nicht so recht – sein Institut hat ausgerechnet, dass ein dreimonatiger Stillstand der Wirtschaft einen Schaden in Höhe von 729 Milliarden Euro bedeuten könnte. "Die Zukunft wird leider genau das sein, was Sie gerade beschrieben haben", sagt Fuest zu Altmaier. Er plädiert dafür, das öffentliche Leben nach Bedarf hoch- und runterzufahren. "Aus meiner Sicht ist das unvermeidlich. Wir müssen die Wirtschaft wieder in Gang setzen und mit der Krankheit leben."

Was ist das Ergebnis?

Das Problem dieser Sendung: Schon zu Beginn stellen alle Gäste klar, dass man die zentrale Frage noch gar nicht beantworten könne: Wie lange muss der Ausnahmezustand noch dauern? Zwar sind sich alle einig, dass man darüber nachdenken muss. Doch eine grobe Annahme, gar ein konkretes Datum kann und will hier niemand rausrücken – so sehr es Anne Will auch versucht.

Ansonsten verläuft die Sendung wie viele Talkshows zum Thema zuvor. Die wichtigsten Botschaften: Die Krankenhäuser brauchen dringend Personal und Ausrüstung, der Wirtschaft droht eine schwere Rezession und vielen Menschen der Verlust des Arbeitsplatzes – und die Regierung tut, was sie kann. Das ist alles richtig, in den vergangenen Wochen aber auch schon zur Genüge gesagt worden. Solange noch nicht klar ist, wie wirksam die Einschränkungen des öffentlichen Lebens sind, drehen sich die Diskussionen in Corona-Deutschland ein Stück weit im Kreis.

Schade auch, dass Anne Will auf einen interessanten Gedanken eines Gastes nicht weiter eingeht: Fachmann Gérard Krause nennt nämlich sehr wohl ein weiteres Ausstiegsszenario: Denkbar wäre es, die strikten Maßnahmen "sachte zu lockern", aber "massiv zu intervenieren", wenn es lokal zur einer großen Ausbreitung des Virus komme. Soll also heißen: Wenn man dort, wo das Virus grassiert, besonders hart durchgreift, könnte der Rest des Landes wieder in Gang kommen. Kann das funktionieren? Und wenn ja, wie genau? Darüber zu sprechen, wäre durchaus spannend gewesen.

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