Über zu wenig Aufgaben kann sich Bundeskanzler Olaf Scholz seit Amtsantritt nicht beklagen. Zu viel wurde von der Vorgängerregierung liegen gelassen, zu viel ist seitdem noch dazu gekommen. Gleichzeitig dauert die Kritik an Scholz an, er würde die Bewältigung dieser Aufgaben nicht genügend kommunizieren. Beides waren nun die Hauptthemen bei einem "RTL direkt Spezial", bei dem Scholz versuchte, mit Bürgern ins Gespräch zu kommen.

Christian Vock
Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Christian Vock dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Zunächst empfängt Pinar Atalay den Bundeskanzler am Stehtisch, um mit ihm alleine über Scholz' jüngste "Liebe Schreihälse"-Reaktion auf Zwischenrufer bei einer SPD-Veranstaltung in Brandenburg zu sprechen, die ihn unter anderem als "Kriegstreiber" bezeichneten. Nach wenigen Minuten setzen sie sich zu den vier eingeladenen Bürgern an einen Tisch.

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Mit diesen Bürgern sprachen Olaf Scholz und Pinar Atalay

  • Christoph Golly, 48, Familienvater und Zerspanungsmechaniker
  • Regine Springorum, 81, ehemalige Lehrerin
  • Chris Rücker, 59, Schmelzer in Eisenhüttenstadt
  • Nicole Rathgeber, 39, Landrätin des Werra-Meißner-Kreises

Die Themen des Abends

Nach dem Auftakt-Gespräch mit Pinar Atalay geht die Diskussion am Tisch los und hitziger hätte der Einstieg nicht ausfallen können. Nach wenigen Minuten gerät Scholz mit Renate Springorum aneinander. Die 81-Jährige engagiert sich bei Klimaprotesten und erklärt im Einspieler, warum: "Die Gegenwart macht mir Angst für meine Enkel". Über Olaf Scholz' Haltung gegenüber den Protesten sagt Springorum: "Die Aussage, dass die Aktionen der Letzten Generation völlig bekloppt sind, finde ich dermaßen populistisch und billig und das vom Kanzler der Bundesrepublik Deutschland."

Auf Springorums Forderung, mehr Klimaschutz für die nachfolgenden Generationen zu machen, antwortet Scholz im Studio: "Ich bin sehr überzeugt, dass diese Aktionen nicht weiterführen, dass sie eigentlich nur Ärger und Widerstand auslösen." Als Scholz dann erklären will, was man alles tun müsste, unterbricht ihn die Lehrerin: "Herr Scholz, ich bin jetzt dran! Dass alle sich aufregen, das möchte ich einschränken, denn das stimmt nicht."

Über Atalays Feststellung, die Proteste und Positionen würden generell extremer, kommt die Diskussion auf die Kosten für den Klimaschutz im Besonderen zu den steigenden Kosten im Speziellen. Scholz erklärt, was man bisher alles dagegen unternommen habe und macht sogar ein von Atalay gefragtes Aufstiegsversprechen: "Wir haben so viele Beschäftigte in Deutschland wie in der ganzen Geschichte unseres Landes noch nicht. […] Und trotzdem haben wir Arbeitskräftemangel. Das heißt, es gibt gute Perspektiven, aber wir müssen natürlich dafür sorgen, dass man auch besser zurechtkommt mit guten Löhnen."

Vom Klimaschutz und der Inflation ist es inhaltlich ein kleiner Sprung zum Gebäudeenergiegesetz. Dessen Ziel seien, so Scholz, nicht die kommenden Jahre, sondern die Klimaneutralität bis 2045. Außerdem weist Scholz auf die schlechtere Alternative hin: "Es geht ja auch darum, dass wir uns ein bisschen vorbereiten auf die Zukunft. Alle Expertinnen und Experten sagen uns, dass die Preise für Gas, Kohle und Öl in die Höhe gehen werden." Man fahre als Land nicht nur wegen der Klimakrise, sondern auch wegen der Preise mit einem Umstieg besser.

Den thematischen Abschluss bildet die Frage, wie die Bundespolitik die Kommunen bei der Versorgung von Geflüchteten unterstützen kann. Hier fühlt sich nämlich Landrätin Rathgeber alleine gelassen. Scholz widerspricht zunächst, dass es eine Zweiklassengesellschaft zwischen ukrainischen Geflüchteten und anerkannten Asylbewerbern gebe. In Bezug auf die Kosten sagt Scholz: "Es ist dort besonders gut gelaufen, wo die Länder das Geld, das wir ihnen gegeben haben, zu 100 Prozent an die Gemeinden weitergegeben haben."

An den Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Civey kann jeder teilnehmen. In das Ergebnis fließen jedoch nur die Antworten registrierter und verifizierter Nutzer ein. Diese müssen persönliche Daten wie Alter, Wohnort und Geschlecht angeben. Civey nutzt diese Angaben, um eine Stimme gemäß dem Vorkommen der sozioökonomischen Faktoren in der Gesamtbevölkerung zu gewichten. Umfragen des Unternehmens sind deshalb repräsentativ. Mehr Informationen zur Methode finden Sie hier, mehr zum Datenschutz hier.

So schlug sich Olaf Scholz

Gleich zu Beginn macht Scholz klar, dass er das von Atalay genutzte Wort "wegscholzen" lieber durch "Gelassenheit" ersetzen würde und mit dieser Scholzschen Gelassenheit bewältigt der Bundeskanzler auch die Fragen der Bürger. Er erklärt, rechtfertigt, stimmt zu, widerspricht in einem stets sachlichen Ton.

Gleichzeitig geht er höflich auf die Kritik und Fragen der Bürger ein, die Danksagungen an die Bürger zu Beginn jedes Gesprächs wirken jedoch einen Tick zu vorbereitet. Insgesamt erlebt man einen Kanzler, der Kritik annimmt, ohne dabei den Bürgern nach dem Mund zu reden.

So schlug sich Pinar Atalay

Dass Atalay die Diskussionsteilnehmer, egal, ob Bundeskanzler oder Bürger, viel zu oft unterbricht, mag an dem eng geschnittenen Korsett der Sendung gelegen haben. 60 Minuten, zwei Werbeunterbrechungen, vier Vorstellungseinspieler und fünf Gäste, die alle zu Wort kommen wollen - das war ein strammes Programm. Unschön sind die Unterbrechungen für den Zuschauer trotzdem, vor allem, weil sie oft genug Interessantes abwürgen, etwa, als Scholz gerade erklären will, dass sich manche Ministerpräsidenten mit der Transparenz, wie viel Geld sie an die Kommunen bei der Versorgung der Geflüchteten wirklich weitergeben, schwertun.

Noch ärgerlicher, auf einer inhaltlichen Ebene, ist dagegen Atalays Umgang mit dem Gesagten der Gäste, bei dem doch vieles ohne Widerspruch bleibt. "Die machen hier einfach einen auf Gewalt", behauptet beispielsweise Chris Rücker salopp über Aktivisten der Letzten Generation. Sieht man sich die Bilder von handgreiflichen Autofahrern an, ergibt sich hier aber ein anderer Eindruck über die Ausübung von Gewalt bei den Protesten.

Doch mit der gleichen Oberflächlichkeit geht auch Atalay selbst zu Werke, etwa, als sie Scholz gleich zu Beginn eine Umfrage zeigt, wonach 64 Prozent der Befragten weniger oder gar nicht zufrieden mit seiner Arbeit seien, und den Kanzler dann fragt: "Erkennen Sie da nicht, dass Sie irgendwas falsch machen müssen?" Ein merkwürdiger Zusammenhang, denn das würde ja bedeuten, dass ein Kanzler nur dann alles richtig macht, wenn die Leute in den Umfragen zufrieden mit seiner Arbeit sind - ganz egal, welche Politik er macht.

Das Fazit

Vieles, insbesondere die Klimakrise und die Proteste der Letzten Generation, wurden am Dienstagabend maximal oberflächlich abgespeist und einige Behauptungen wurden dann doch sehr vereinfacht und abgedroschen vorgetragen, etwa der Klassiker "Wann wird sich denn Arbeit wieder lohnen?" Für Olaf Scholz dürfte sich der Abend trotzdem gelohnt haben, denn er konnte sich und seinen Politikstil ausreichend erklären und eine intensivere Kommunikation mit Bürgern und Lokalpolitikern versprechen.

Gleichzeitig wurde durch die Diskussion deutlich: Ja, es gibt für Bürger gerade sehr viele Zumutungen und Belastungen - aber die gibt es auch für Olaf Scholz. Denn er muss sie genauso bewältigen, nur eben nicht als Privatmensch, sondern für alle Bürger. Und hier, so erklärt es Scholz beim Klimaschutz, gehe es manchem zu schnell und anderen, wie Springorum, nicht schnell genug.

Problem Nummer zwei: Scholz nimmt diese Realität seiner Bürger wahr, tut sich aber schwer im Umgang mit der tatsächlichen und der gefühlten Realität der Bürger. Zwar zeigt er Verständnis, doch kann er hier nur mit den Maßnahmen seiner Politik dagegen halten - was aber nun mal eher sachlich und nicht emotional greifbar ist. Es mag sein, dass Scholz dieses Dilemma an diesem Abend selbst klar wurde, einen Hinweis von Nicole Rathgeber bekam Scholz jedenfalls: "Seien Sie mehr on fire!"

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