- Viktor Orban hat zum Wahlkampfauftakt mit einem EU-Austritt gedroht, sollte der Staatenbund die nationalen Werte seines Landes nicht ausreichend achten.
- Einen gemeinsamen Weg könne es nur geben, wenn die EU mehr Toleranz zeige, sagt Ungarns Ministerpräsident.
- Wie realistisch ist ein EU-Austritt Ungarns - oder bezweckt der Politiker mit seinen Drohungen etwas ganz anderes? Osteuropa-Experte Mihai Varga gibt Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Harte Worte von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban Richtung Europäische Union (EU) sind keine Neuheit. Nun hat Orban zum Wahlkampfauftakt aber erstmals einen EU-Austritt seines Landes angedeutet.
In seiner "Rede zur Lage der Nation" warf er der EU vor, zu wenig Toleranz gegenüber Ungarn zu zeigen. Unter dem Schlagwort des Rechtsstaats führe die EU "einen Heiligen Krieg, einen Dschihad", sagte der 58 Jahre alte Politiker. Achte die EU die nationalen Werte seines Landes nicht, sei es nicht möglich, weiterhin einen gemeinsamen Weg zu gehen.
Ungarns Parlamentswahlen im April
Im April stehen in Ungarn Parlamentswahlen an. Orban regiert mit seiner Partei Fidesz ohne Unterbrechung seit 2010 in einem Bündnis mit der KDNP. Besonders für ihre Asyl- und Familienpolitik hat Orban den Staatenbund in der Vergangenheit immer wieder attackiert, im vergangenen Jahr warnte Orban gar vor einem "deutschen Europa".
Auch jetzt betonte Orban: "Ungarn will nicht werden wie Westeuropa." Die EU wolle Ungarn hingegen "zu etwas kneten, was ihnen ähnelt". Trotz "wachsender kultureller Entfremdung" sei dem Land aber daran gelegen, die EU zusammenzuhalten.
Die Kritik kommt nicht nur wegen des Wahlkampfes. In wenigen Tagen wird das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) über den neuen Rechtsstaatsmechanismus erwartet. Ländern soll dann Geld aus dem EU-Haushalt gekürzt werden können, wenn sie gegen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Ungarn und Polen hatten dagegen geklagt.
Sind Viktor Orbans Drohungen ernst gemeint?
Osteuropa-Experte Mihai Varga hält Orbans Worte für leere Drohungen. "Ich würde das Ganze nicht so ernst nehmen. Für Orbans Verhältnisse sind das schwache Worte gewesen", sagt der Wissenschaftler im Gespräch mit unserer Redaktion. Deutlich werde nur, dass die konfliktvolle Inszenierung im Verhältnis zwischen Ungarn und der EU weiterhin Bestand hat.
Die Mehrheit der Bevölkerung stünde nicht hinter einer solchen Entscheidung. Die EU-Mitgliedschaft wird in Ungarn von fast 80 Prozent befürwortet. Im "Eurobarometer" vom Frühjahr 2021 hatten Luxemburg (88), Irland (88), Portugal (84) und Deutschland (84) die höchsten Zustimmungswerte zur EU. In Bulgarien (55) und Griechenland (51) gaben aber deutlich weniger Abstimmende an, sich als EU-Bürger zu fühlen, als in Ungarn (78).
Wie realistisch ist ein EU-Austritt Ungarns?
"Ich halte einen Austritt Ungarns aus der EU deshalb für sehr unwahrscheinlich", sagt Varga. Sowohl das Land als auch Orban können sich ein solches Szenario nicht leisten – finanziell und politisch betrachtet. "Ungarn bekommt sehr viel Hilfe von der EU, das kalkuliert die Regierung natürlich mit ein, wenn es den Haushalt entwirft", sagt Varga.
Ungarn zählte 2019 laut Bundeszentrale für politische Bildung mit Lettland, Estland, Kroatien und Bulgarien zu den größten Nettoempfängern in der EU und erhält jährlich rund 5 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt. "Deutsche Firmen produzieren außerdem viele Autos in ungarischen Fabriken. Wenn sie durch einen Austritt teurer werden, wäre das eine Katastrophe für die Industrie", ergänzt Varga.
Das sei aber nicht das einzige Argument gegen einen Austritt: Noch entscheidender sei die nationale Selbstwahrnehmung der Bevölkerung. "Ein Austritt wäre sehr unpopulär, die Bevölkerung sieht sich als europäisches Land", betont Varga. Im Falle eines Austritts drohe eine Krise.
Was bezweckt Orban mit seinen Drohungen?
Warum Orban trotzdem so harte Worte nach Brüssel schickt, könnte aus Sicht von Experte Varga mehrere Gründe haben. "Es könnte sein, dass er mit seinen Worten in der Opposition Konflikte auslösen oder damit Geschenke an bestimmte konservative Kreise machen will", analysiert Varga.
Seine Anhängerschaft sei im Allgemeinen aber weniger radikal als er. Schon in der Vergangenheit, als Orban Kirchengruppen bei den Themen Abtreibungsrecht und Regulierung von Verhütungsmitteln Versprechungen machen wollte, habe es Gegenwind gegeben. "Orban profitiert aber davon, wenn er immer wieder im Mittelpunkt des Wertekonflikts mit der EU steht. Er wird dann gleichgesetzt mit Ungarn wahrgenommen", sagt Varga.
Wie sollte sich die Europäische Union verhalten?
Dass Orban die EU zu konkreten Zugeständnissen bewegen möchte, glaubt Experte Varga nicht. "Ich halte ein Entgegenkommen der EU jetzt nicht für den richtigen Weg", sagt er. Bei den Themen Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte müsse die EU standhaft bleiben. Noch immer erfolge in Ungarn eine konsequente Mobilisierung der staatlichen Medien gegen Flüchtlinge oder Gruppen wie LGBTQ.
Warum toleriert die Bevölkerung Orbans Aussagen dennoch? "Orban hat seine Anhänger nicht über das Thema EU-Kritik gewonnen", erklärt der Experte. Viele Ungarn und Ungarinnen würden Orban mit ganz anderen Dingen in Verbindung bringen – mit der Erhöhung des Mindestlohns und gesenkten Kosten für Energieversorgung. "Die politischen Alternativen zu Orban bieten für die Ungarn hier nicht unbedingt eine bessere soziale Perspektive", sagt Varga.
Verwendete Quellen:
- Interview mit Mihai Varga
- Europäische Kommission: Europäische Union: Fühlen Sie sich als ein Bürger der Europäischen Union?
- Europäische Kommission: Zustimmung zur Europäischen Union - Ergebnisse des Eurobarometer Frühjahr 2021, aufgeschlüsselt nach Mitgliedstaaten. September 2021
- Bundeszentrale für politische Bildung: Nettozahler und Nettoempfänger in der EU. 23.03.2021
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.