Syrien gilt als wichtigster Exporteur der Droge Captagon. Mittlerweile ist der gesamte Nahe Osten von dem Aufputschmittel überschwemmt. Vieles spricht dafür, dass die Droge ein wichtiger Trumpf für das Regime von Bashar al-Assad ist.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Adrian Arab sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Syrische Exportgüter, das waren einmal Damaszener Stahl, Kümmel, Nelken und Pfeffer. Mit dem Beginn des syrischen Bürgerkrieges, der umfangreiche Sanktionen westlicher Staaten nach sich gezogen hat, ergänzte Syrien seinen Exportmix um ein weiteres, weitaus fragwürdigeres Gut: die Droge Captagon. Heute gehört das Amphetamin zu den lukrativsten Einnahmequellen für das kriegsgeplagte Land und könnte zugleich ein Hebel sein, der dem Regime von Bashar al-Assad zuletzt zurück auf die internationale Bühne verholfen hat.

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Laut westlichen Regierungen ist der Handel mit dem "Kokain des kleinen Mannes", wie Captagon wegen seines günstigen Verkaufspreises genannt wird, inzwischen zu einer wesentlichen Einnahmequelle des syrischen Regimes geworden. Nach Angaben des Center for Operational Analysis and Research (COAR), das sich auf Syrien konzentriert, beliefen sich die Captagon-Exporte aus dem Land im Jahr 2020 auf mindestens 3,46 Milliarden US-Dollar. Ein Wert, der fast einem Drittel der gesammelten syrischen Wertschöpfung entspricht und die legalen Exporte Syriens übersteigt.

Konsumenten fühlen sich wach, leistungsfähig und euphorisch

Das stark abhängig machende Captagon erfreut sich im Nahen Osten großer Beliebtheit, weil es wie die meisten Amphetamine als "weiche Droge" gilt. Konsumenten berichten, sie seien nach der Einnahme hellwach, konzentriert und euphorisch – selbst wenn man wolle, könne man nicht schlafen. "Ich dachte, mir gehört die Welt. Dass ich so stark bin, wie sonst niemand", sagte ein Konsument zu Reportern der BBC. "Als ich Captagon nahm, hatte ich keine Angst mehr."

Dabei war die weiße Pille, hinter der sich der Wirkstoff Fenetyllin verbirgt, lange Zeit auch im Westen verbreitet. 1961 entwickelte der deutsche Pharmakonzern Degussa das Medikament, um damit das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS), Narkolepsie, also krankhafte Schläfrigkeit, und Depressionen zu behandeln.

In Europa und den USA griffen aber auch kerngesunde Schauspieler, Schüler und Studenten vor Auftritten oder Prüfungen zu, um ihre Aufregung in den Griff zu bekommen – und Bundesliga-Profis. Laut dem ehemaligen Schalke-Trainer Peter Neururer dopte in den 80er-Jahren knapp die Hälfte aller deutschen Fußballprofis mit Captagon: "Viele Spieler waren verrückt danach."

Captagon besitzt brutale Nebenwirkungen

Brutal ist aber nicht nur die Wirkung, sondern sind auch die Nebenwirkungen wie Halluzinationen, Angstzustände oder Herz-Kreislauf-Beschwerden. 1986 stellten westliche Firmen als Reaktion auf behördliche Verkaufsverbote die Produktion ein, seitdem wird Captagon nur noch illegal produziert. Anfang der 90er-Jahre zunächst auf dem Balkan, in Bulgarien und der Türkei, ab der Jahrtausendwende im Libanon und mit Beginn des Bürgerkrieges auch im großen Stil in Syrien.

Von dort aus wird Captagon nicht nur in den gesamten Nahen Osten exportiert, sondern während des Syrien-Kriegs auch an die beteiligten Kriegsparteien im Syrien-Krieg, wo die Droge zweierlei Funktionen erfüllte: Milizen wie die Al-Nusra-Front, der Islamische Staat oder die Freie Syrische Armee erzielten mit der Herstellung und dem Weiterverkauf gute Einkünfte. Gleichzeitig putschten sich die Kämpfer auf und verwandelten sich in eine Art "übermenschliche Soldaten", wie es die Washington Post 2015 beschrieben hat. Dieser Verwendungszweck brachte Captagon auch den Begriff "Jihadisten-Droge" ein.

Captagon-Produktion mit der Süßigkeiten-Maschine

Dass Syrien aus dem Captagon-Handel trotz der Sanktionen ein Milliardengeschäft machen konnte, liegt unter anderem an der einfachen Produktion. Um die Pillen herzustellen, braucht es weder große Kenntnisse noch komplizierte Labore, sondern lediglich eine Dragee-Maschine, wie sie auch bei der Gummibärchen-Herstellung genutzt wird.

Aus wenigen Cent Wareneinsatz lassen sich so obszöne Einnahmen generieren: Inklusive Rohstoffe, Schmuggel und Bestechung kostet eine Lieferung rund zehn Millionen Dollar – und kann einen Reingewinn von bis zu 180 Millionen Dollar erzielen. Eine wahnwitzige Marge für ein Land, das kaum andere produktive Wirtschaftssektoren vorzuweisen hat.

Unter der Captagon-Schwemme im Nahen Osten leidet vor allem Saudi-Arabien. Das Königreich stellt zwar jeglichen Drogenkonsum unter drakonische Strafen, solange er nicht die Herrscherfamilie betrifft. Kein anderes Land in der näheren Umgebung hat jedoch ein ähnliches Drogenproblem. Nach Zahlen des saudischen Innenministeriums sind 200.000 Menschen süchtig, die Dunkelziffer dürfte den offiziellen Wert übersteigen.

Die schwierige Lage ist ohne Syrien nicht in den Griff zu bekommen

Gerade junge Männer zwischen 18 und 29 Jahren sind gefährdet, sie greifen überproportional häufig zu Captagon, sei es zur Leistungssteigerung oder für die Gewichtsabnahme. Zwischen 2015 und 2019 fielen allein auf Saudi-Arabien mehr als 45 Prozent der weltweiten Beschlagnahmungen. Für die Drogenschwemme macht Saudi-Arabien zwar offiziell die Hisbollah-Milizen aus dem Libanon verantwortlich.

Tatsächlich ist die Menge der aus dem Mittelmeerstaat stammenden Drogen aber gering: Etwa 80 Prozent des nach Saudi-Arabien geschmuggelten Captagons kommen aus Syrien. Zumindest auf diplomatischem Wege erkannte man zuletzt an, dass die gesellschaftlich zunehmend schwierige Lage ohne Syrien nicht in den Griff zu bekommen ist.

Dass Diktator Assad im Mai nach zwölf Jahren Ausschluss wieder in der Arabischen Liga, einer Art arabischer EU, aufgenommen wurde, hängt nach Ansicht politischer Beobachter auch mit dem Captagon-Handel zusammen. So soll Saudi-Arabien Assad im Vorfeld dazu verpflichtet haben, das Drogenproblem einzudämmen, und diese Forderung mit einer Zahlung von vier Milliarden Dollar garniert haben.

Fraglich, welchen Einfluss Assad auf den Handel hat

Ob der Deal aufgeht? Dafür wäre es notwendig, dass Assad die Kontrolle über den Drogenhandel im Land hat – eine Voraussetzung, die mehr als fraglich ist. Viel eher scheint Syrien längst ein Narco-Staat zu sein, in dem der Drogenhandel nicht zentral aus Damaskus gesteuert, sondern regional von verschiedenen – westliche Regierungen sprechen von bis zu 120 – Gruppen organisiert wird.

Andere Quellen verweisen wiederum darauf, dass auch Assad-treue Personen wie die 4. Division von den lukrativen Geschäften profitieren. Die berüchtigte Eliteeinheit steht unter dem Kommando von Mahir al-Assad, dem Bruder des Präsidenten, und wurde unter anderem wegen der Beteiligung am Captagon-Handel von westlichen Regierungen sanktioniert.

Zudem sollen laut New York Times zahlreiche Captagon-Fabriken von syrischen Soldaten geschützt und mit Schildern "Geschlossene Militärzone" gekennzeichnet sein. In jedem Fall hat Damaskus bislang wenig dagegen unternommen, den wohl wichtigsten Wirtschaftszweig Syriens auszutrocknen.

Ob vier Milliarden Dollar daran viel ändern, ist fraglich.

Verwendete Quellen:

  • auswärtiges-amt.de: Neues EU-Sanktionspaket zu Syrien nimmt Drogenhandel und schwerste Menschenrechts­verbrechen ins Visier
  • coar-global.org: The Syrian Economy at War: Captagon, Hashish, and the Syrian Narco-State
  • youtube.com: BBC Arabic - The Drug Fueling Conflict In Syria
  • bild.de: Viele Spieler haben Captagon geschluckt
  • washingtonpost.com: The tiny pill fueling Syria’s war and turning fighters into superhuman soldiers
  • cicero.de: Drogenkonsum in Saudi-Arabien - Die Captagon-Prinzen
  • aljazeera.com: How important is Captagon in al-Assad’s return to the Arab fold?
  • atlanticcouncil.org: Can Arab League states ‘get something’ for readmitting Assad?
  • opensanctions.org: Fourth Division of the Syrian Arab Army
  • newlinesinstitute.org: The Captagon Threat: A Profile of Illicit Trade, Consumption, and Regional Realities
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