In Ecuador ist kurz vor den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen einer der Kandidaten erschossen worden. Fernando Villavicencio wurde am Mittwoch in der Hauptstadt Quito getötet. Zwei Experten erklären, was die Staatskrise ausmacht, wie groß der Einfluss der Drogenmafia ist und wie es nun weitergehen könnte.

Mehr aktuelle News

Ecuador befindet sich im Ausnahmezustand: Am Mittwochabend (9. August) ist der Präsidentschaftskandidat Fernando Villavicencio nach einer Wahlkampfveranstaltung in der Hauptstadt Quito erschossen worden. Der Kritiker des linken Lagers und ehemalige Journalist Villavicencio kämpfte gegen Korruption in Ecuador.

In jüngsten Umfragen des Cedatos-Instituts landete er mit etwa 13 Prozent der Wählerstimmen hinter der Anwältin Luisa González, andere Institute sahen den Zentristen eher im Mittelfeld für die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen Ende August.

Präsident hat keinen Rückhalt mehr

"Dies ist ein politisches Verbrechen mit terroristischem Charakter, und wir bezweifeln nicht, dass dieser Mord ein Versuch ist, den Wahlprozess zu sabotieren", sagte der amtierende Präsident Guillermo Lasso. Der Mordanschlag stürzt Ecuador in eine noch schwerere politische Krise.

Im Frühjahr hatte Präsident Lasso, gegen den ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet worden war, das Parlament aufgelöst und Neuwahlen ausgerufen. "Die Staatskrise besteht bereits seit diesem Zeitpunkt", sagt Ecuador-Experte Wold Grabendorff.

Der Vorgang sei zwar in der Verfassung verankert, habe sich aber noch nie zuvor ereignet. "Lasso hat keins seiner Gesetze mehr durchs Parlament bekommen, weil er dort keine Mehrheit mehr hatte, die Regierung war schon seit Monaten nicht mehr regierungsfähig", erklärt er weiter.

Land im Griff der Drogenmafia

Seitdem habe Lasso wie ein Diktator per Dekret regieren können. "Das hat dazu beigetragen, dass sich die Situation verschlimmert hat", ist Grabendorff überzeugt. Lasso habe sich nicht um die Sicherheitslage und die Probleme des Landes gekümmert, sondern hauptsächlich um die Reorganisation des Finanzwesens im Staat.

Auch Ecuador-Expertin Karin Gabbert ist sich sicher: "Es gab schon vorher eine Staatskrise, aber die Dimensionen, wie weit das organisierte Verbrechen und die Drogenmafia das Land unterwandert haben, werden immer klarer."

Die Zustimmungs- und Vertrauenswerte in Staat und Politik seien extrem niedrig. Die Pandemie habe die Staatskrise weiter beschleunigt. "Lasso hat es zwar am Anfang geschafft, relativ schnell Impfstoffe zu besorgen – das war aber auch schon alles", analysiert sie. Wie viele andere Länder in Lateinamerika sei Ecuador während der Pandemie zusammengebrochen.

Sparkurs verschlimmert die Lage

"Lasso setzt auf Unternehmensgewinne und fährt einen Sparkurs. Er hat Sozialausgaben eingefroren und investiert nicht ins Bildungs- oder Gesundheitssystem", so die Expertin. Das sei Gift für ein Land, das mit hoher Jugendarbeitslosigkeit, organisierter Kriminalität und einem geringen Grad an legaler Arbeit zu kämpfen habe. "Die soziale Lage ist katastrophal und genau da setzt das organisierte Verbrechen an", beobachtet sie.

Die Drogenmafia kontrolliere die Gefängnisse, bezahle bei Regionalwahlen Kandidaten und schüchtere andere ein. "Das organisierte Verbrechen hat in vielen Teilen freie Bahn und die Gefahr, die von ihm ausgeht, ist immens", warnt Gabbert.

Auch Grabendorff sagt: "In Teilen des Landes haben die Drogenhändler eine parallele Staatsform aufgebaut." Die Mordrate sei auf einem historisch hohen Niveau, weil die Kartelle um den Transportkorridor durch Ecuador kämpften.

Ecuador als Drogenhotspot

"Dass Ecuador zu so einem Hotspot geworden ist, hat mehrere Gründe", sagt Gabbert. Zum einen habe Ecuador US-Dollar als Landeswährung – ein Traum für Geldwäsche. Außerdem habe das Friedensabkommen mit der kolumbianischen FARC-Guerilla im Jahr 2016 dafür gesorgt, dass sich der Drogenhandel verlagert hat.

"In der Pandemie hatte die Drogenproduktion in Kolumbien und Peru Absatzschwierigkeiten. In diesem Zuge ist Ecuador zum Land geworden, aus dem der Handel betrieben wird", beobachtet Gabbert.

In der Woche vor seinem Tod soll Präsidentschaftskandidat Villavicencio mehrfach Drohungen vom Anführer der kriminellen Bande "Los Choneros" gegen ihn und sein Wahlkampfteam erhalten haben. Die Bande steht in Verbindung mit dem organisierten Drogenhandel.

Mehrere Verdächtige festgenommen

Wer für den Mord an Villavicencio verantwortlich ist, ist allerdings noch unklar. Präsident Lasso hat das amerikanische FBI zur Unterstützung bei Ermittlungen angefordert. Ein mutmaßlicher Angreifer wurde von Sicherheitskräften erschossen, sechs weitere Verdächtige wurden laut Staatsanwaltschaft festgenommen. Nach Angaben der Behörden handelt es sich bei den Verdächtigen um Kolumbianer.

Andere machen Anhänger des ehemaligen linksgerichteten Präsidenten Rafael Correa, der von 2007 bis 2017 an der Macht war, für die Eskalation verantwortlich. Denn: Villavicencio hatte an einer Untersuchung zur Aufdeckung eines umfangreichen Korruptionsnetzwerks mitgearbeitet, in das Correa verwickelt war. Correa kam infolge der Recherchen vor Gericht, floh nach Belgien und wurde in Abwesenheit zu acht Jahren Gefängnis verurteilt.

Anhänger von Ex-Präsident im Visier

"Correa hat vor allem in der Unterschicht viele Anhänger, aber der Hass gegen ihn ist auch stark. Er wurde vor allem von der Oberschicht angegriffen, weil er beispielsweise viele Dinge verstaatlicht hat", weiß Grabendorff. Correa habe das Land mit harter Hand modernisiert, unter ihm sei die Mordrate aber die geringste in Lateinamerika gewesen. Correa habe beispielsweise die Polizei besser ausgestattet.

"Die Drogenkartelle sind vor allem in den letzten Jahren aufgeblüht, dazu haben auch die Sparmodelle von Präsident Lasso und seinem Vorgänger beigetragen", so der Experte.

Die jetzige Präsidentschaftskandidatin González ist seine ehemalige Bildungsministerin und liegt bei allen Umfragen weit vorne. Wie es mit Ecuador weitergeht, können beide Experten nur schwer einschätzen. Dass der Mordanschlag das Wahlverhalten der Ecuadorianer beeinflussen wird, gilt als gesichert.

Auf dem Weg zum "Failed state"

Laut Gabbert könnte die Situation dem bislang abgeschlagenen Unternehmer und Präsidentschaftskandidaten Jan Topić Zulauf bescheren. "Er will so ähnlich regieren wie der salvadorianische Präsident Nayib Bukele, der vor allem auf Inhaftierungen setzt", erklärt die Expertin. Insgesamt habe die Polarisierung im Land noch weiter zugenommen.

Grabendorff warnt: "Ecuador ist auf dem Weg zum Failed state". Gemeint ist ein "gescheiterter Staat", der seine grundlegenden Funktionen nicht mehr erfüllen kann. "Ich befürchte, dass der Mord an Villavicencio nicht der letzte vor der Wahl war, sagt er weiter. Macht werde zum großen Teil durch Gewalt ausgeübt. "Ecuador wurde im Anden-Kontext immer als friedliche Insel gesehen. Es waren vor allem externe Faktoren, die dafür gesorgt haben, dass Ecuador nun so am Abgrund steht."

Auch Gabbert blickt sorgenvoll auf die Zukunft des Landes. "Es gab immer wieder Auswanderungswellen, aber eine so große wie jetzt hat es noch nicht gegeben", sagt sie. Zwar weiß sie nicht, wer dazu in der Lage wäre, nur ein Grundsatz schenkt ihr Hoffnung: "Wenn eine künftige Regierung nicht so unfähig ist, wie die letzten und Geld einsetzt für soziale Infrastruktur, Gesundheits- und Bildungspolitik, dann nimmt man dem organisierten Verbrechen sein Territorium weg. Dann wäre Ecuador in der Lage, sich zu befreien und daraus zukommen", sagt sie.

Über die Experten:
Dr. Karin Gabbert ist Leiterin des Regionalbüros in Ecuador der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Dr. Wolf Grabendorff war Gastprofessor für Internationale Beziehungen in Ecuador mit dem Forschungsschwerpunkt Außen- und Sicherheitspolitik in Lateinamerika. Er war Landesvertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kolumbien und Ecuador sowie Programmdirektor in Chile.
Interessiert Sie, wie unsere Redaktion arbeitet? In unserer Rubrik "So arbeitet die Redaktion" finden Sie unter anderem Informationen dazu, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte kommen. Unsere Berichterstattung findet in Übereinstimmung mit der Journalism Trust Initiative statt.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.