Selektiv, unterfinanziert und überlastet: Die Vorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft sieht enorme Defizite im deutschen Bildungssystem. Im Interview rechnet Maike Finnern mit einer aus ihrer Sicht verfehlten Politik ab.

Ein Interview

Vor 50 Jahren konstatierte der Philosoph und Pädagoge Georg Picht eine "Bildungskatastrophe" in Deutschland. Die Bundesrepublik gebe zu wenig für die Ausbildung ihrer Kinder aus und schaffe es nicht, mit ihren Schulen Ungerechtigkeit abzubauen, so Picht. Man hat den Eindruck, dass sich seitdem die Bildungsdebatte kaum verändert hat.

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Gegenwärtig sieht das Bündnis "Bildungswende Jetzt!" das deutsche Schulsystem wieder in einer tiefen Krise und fordert unter anderem ein Sondervermögen Bildung. Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat sich der Initiative angeschlossen.

Deren Vorsitzende Maike Finnern sagt: Das größte Problem des deutschen Systems ist die Chancenungleichheit. Im Interview spricht sie über die Baustellen in der Bildungspolitik und eine erste Bilanz der Ampel-Regierung.

Frau Finnern, am Wochenende sind Tausende Menschen dem Aufruf der Initiative "Bildungswende Jetzt!" gefolgt und haben in verschiedenen Städten demonstriert. Waren Sie auch auf der Straße?

Maike Finnern: Ja, ich war in Köln auf der Kundgebung. Es gab zahlreiche Teilnehmende, darunter viele Beschäftigte, die im Bildungssystem arbeiten, Eltern sowie GEW-Kolleginnen und Kollegen. Die Demonstration war ein kraftvolles Signal. Es herrscht viel Frust und Unverständnis über die aktuelle Situation.

Die Initiative, der sich die GEW offiziell angeschlossen hat, fordert ein Sondervermögen Bildung im Umfang von 100 Milliarden Euro. Christian Lindner würde jetzt fragen, woher das Geld kommen soll.

Die 100 Milliarden sind sogar nur ein Teil unserer Vorschläge. Wir fordern eine dauerhaft gute Finanzierung des Bildungssystems im Umfang von zehn Prozent des Bruttoinlandprodukts. Das könnte zum einen über Steuern finanziert werden, zum Beispiel mit einer Vermögensabgabe. Zum anderen könnte man über den Abbau klimaschädlicher Subventionen nachdenken und das eingesparte Geld stattdessen in Bildung stecken. Es heißt immer, es sei zu wenig Geld da, aber für andere Projekte wird dann welches gefunden und ausgegeben. Das Argument finde ich daher wenig überzeugend. Der Staat kann sein Geld nicht besser investieren als in die Bildung.

Angenommen die vielen zusätzlichen Milliarden für Bildung kommen. Was sollte damit zuerst gemacht werden?

Wir brauchen auf jeden Fall eine Schul- und Kitabau-Offensive. Die Schulgebäude sind in besonders schlechtem Zustand und es fehlt an Kita-Plätzen. Mehr Geld sollte auch in die Arbeits- und Lernbedingungen an Schulen gehen. Wir brauchen beispielsweise kleinere Klassen und multiprofessionelle Teams.

Auch heute sprechen einige wieder von einer "Bildungskatastrophe" in Deutschland. Sehen Sie die auch?

Ohne Frage haben wir es mit einer echten Misere zu tun. Die Situation ist verfahren. Wir sehen gerade die Auswirkungen des Spardiktats der vergangenen 30 Jahre. Zehn Jahre nach dem Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz fehlen bundesweit immer noch 400.000 Plätze. Zudem mangelt es überall an Fachpersonal. Es hätte viel mehr investiert werden müssen, um zusätzliche Ausbildungs-, Studien- und Referendariatsplätze zu schaffen. Dazu kommt noch die unzureichende Digitalisierung im Bildungssystem.

Was ist aus Ihrer Sicht das dringendste Bildungsproblem in Deutschland?

Die Chancenungleichheit. Das ist für mich das drängendste Problem, weil es großen Teilen der Gesellschaft Berufs- und Lebensperspektiven nimmt. Das können wir uns als Demokratie, als Gesellschaft schlicht nicht leisten. Unser Versprechen an die Kinder und Jugendlichen muss lauten, dass wirklich alle gute Bildungschancen bekommen. Aber das ist im Moment leider nicht so. Das deutsche Bildungssystem ist extrem selektiv und ungerecht. Wir wissen durch zahlreiche Studien schon seit vielen Jahren, dass in Deutschland der Bildungserfolg so sehr vom Elternhaus abhängt wie in kaum einem anderen Staat. Das ist die große Krux im Bildungssystem.

"Man sollte nicht nur Kita und Schule in den Fokus nehmen, sondern die gesamte Bildungskette."

Maike Finnern

Eine aktuelle OECD-Studie zeigt, dass 16 Prozent der jungen Erwachsenen keine Ausbildung haben. Tendenz seit Jahren steigend.

Man könnte noch hinzunehmen, dass jeder siebte Erwachsene funktionaler Analphabet ist. Das sind so alarmierende Zahlen, dass man dringend handeln muss. Sie zeigen zudem, dass man nicht nur Kita und Schule in den Fokus nehmen sollte, sondern die gesamte Bildungskette. Es braucht auch einen Pakt für berufliche Schulen, eine bessere Ausstattung der Hochschulen und ein ganz anderes Weiterbildungssystem. All das berührt die Frage der Chancengleichheit in der Bildung.

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) will nun mit dem "Startchancenprogramm" etwas gegen Bildungsungleichheit tun. Die Schulen mit besonderen sozialen Herausforderungen sollen künftig von Bund und Ländern zwei Milliarden Euro im Jahr erhalten. Ein Durchbruch?

Der Durchbruch ist, dass ein Teil des Geldes nach sozialen Kriterien verteilt werden soll: nach der Devise Ungleiches muss ungleich behandelt werden". Leider gilt das nur für den kleineren Teil des Programms. Die Summe, die im Raum steht, hört sich erst einmal groß an. Wir haben bundesweit aber rund 40.000 Schulen, von denen nur zehn Prozent etwas abbekommen sollen. Das ist die Realität. Es müssten jedoch 20 bis 25 Prozent sein, denn dieser Prozentsatz der Kinder und Jugendlichen ist arm beziehungsweise armutsgefährdet. Entsprechend bräuchte es eine Verdoppelung bis Verdreifachung des Budgets. Ursprünglich war die Idee, dass Bund und Länder jeweils zwei Milliarden Euro geben, jetzt zahlt der Bund nur eine, die Länder stellen maximal noch eine Milliarde zusätzlich zur Verfügung. Zudem ist das Programm auf zehn Jahre begrenzt.

Davon abgesehen, wie bewerten Sie die bisherige Arbeit der Bundesbildungsministerin?

Die Ampel-Regierung hat ein "Jahrzehnt der Bildungschancen" angekündigt. Ehrlich gesagt: Davon sieht man bisher sehr wenig. Die Kindergrundsicherung, sie gehört für mich zum Thema Bildungschancen, wird aller Voraussicht nach nicht der große Wurf werden. Die leichte Erhöhung der BAföG-Sätze reicht nicht aus. Wir brauchen dringend eine strukturelle Reform der Studienfinanzierung. Den Pakt für berufliche Schulen gibt es immer noch nicht. Im Bereich der Bildung gibt es derzeit mehr Leerstellen als Punkte, die man abhaken kann. In den nächsten zwei Jahren Ampel-Regierung muss noch ganz viel passieren.

Bildung ist vor allem Ländersache. Die Arbeit des Bundes macht das nicht gerade einfacher. Sollte der Bildungsföderalismus abgeschafft werden?

Den Bildungsföderalismus abzuschaffen, ist nicht sinnvoll. Wir haben in den Ländern und Kommunen ganz unterschiedliche Bedingungen, auf die auch unterschiedlich reagiert werden muss. Andererseits ist das derzeitige Konstrukt alles andere als ideal. Wenn der Bund Geld gibt, dauert es viel zu lange, bis dieses wirklich bei den Schulen ankommt. Zudem kann der Bund wegen des Kooperationsverbots in der Bildung immer nur befristet Geld geben.

"Das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern muss abgeschafft werden."

Maike Finnern

Was fordern Sie?

Dieses Verbot muss abgeschafft werden. Wir brauchen außerdem mehr Verbindlichkeit. Das bedeutet zum Beispiel länderübergreifende Mindeststandards für die Schulbauten, die Ausstattung der Ganztagsschulen und die Lehrkräftebildung. All das sind Fragen der Chancengleichheit.

Stellen Sie sich vor, die 16 Kultusministerinnen und -minister und die Bundesbildungsministerin stünden gerade vor Ihnen. Was würden Sie diesen sagen?

Lassen Sie uns zusammensetzen mit allen in der Bildung wichtigen Akteurinnen und Akteuren und überlegen, wie wir eine gute Bildungsreform und ein gemeinsames Verständnis eines chancengleichen Bildungssystems hinkriegen. Jede Ebene muss dazu beitragen, einen gesamtgesellschaftlichen Prozess zur Verbesserung der Bildung in diesem Land anzustoßen.

Zur Person:

  • Maike Finnern (Jahrgang 1968) ist ausgebildete Lehrerin und hat an Realschulen in Rheda-Wiedenbrück und Enger gearbeitet. 2011 wurde sie Landesvorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft in Nordrhein-Westfalen und zehn Jahre später schließlich deren Bundesvorsitzende. Seitdem ist Finnern häufig im GEW-Sitz in Frankfurt am Main, lebt aber nach wie vor in Bielefeld.
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