Bei den Gewaltexzessen waren vor drei Wochen in einem Vorort der französischen Stadt Dijon eine Gruppe Tschetschenen und nordafrikanische Drogendealer aneinandergeraten. Nun warnt der Experte Ekkehard Maaß, dass solche Ausschreitungen auch in Deutschland möglich seien, wenn der Staat nicht für Ordnung sorge.
Die Videos von den Gewaltexzessen aus der ostfranzösischen Stadt Dijon erschütterten im Juni die europäische Öffentlichkeit: Sie zeigten brennende Autos und Vermummte, die mit automatischen Waffen schießen. In anderen Clips ist ein Auto zu sehen, das auf eine Menschengruppe zurast, vom Kurs abkommt und mit einem Hindernis kollidiert. Anschließend wird der Fahrer gefilmt, der blutverschmiert aus dem Fahrerfenster hängt. In drei Tagen wurden 20 Menschen verletzt, zwei von ihnen schwer.
Dass diese schockierenden Bilder mitten aus Europa stammen, ist nur schwer vorzustellen und doch wahr. Tageszeitungen titelten: "Bandenkrieg erschüttert Vororte in Dijon" und zeigten Fotos von ausgebrannten Fahrzeugen und den Überresten der Straßenbarrikaden im Vorort Grèsilles. Bei den Ereignissen handelte es sich offenbar um eine Auseinandersetzung zwischen einer Gruppe von Tschetschenen und Bewohnern des Vororts mit nordafrikanischen Wurzeln.
Auslöser soll ein Angriff auf einen 16-jährigen Tschetschenen durch nordafrikanische Drogendealer gewesen sein: Nachdem er wiederholt verprügelt worden war, schickte der junge Mann einen Hilferuf in Online-Netzwerke, dem zahlreiche Tschetschenen aus Frankreich, Deutschland und Polen folgten. Bis zu 150 Tschetschenen reisten nach Dijon, um ihren Landsmann zu rächen.
Eine unrühmliche Figur machte dabei auch die französische Polizei, die Medienberichten zufolge erst mit großer Verzögerung in den Konflikt eingegriffen haben soll: Erst am dritten Tag der Ausschreitungen soll demnach ein nennenswertes Polizeiaufgebot vor Ort gewesen sein.
Die Nachricht war klar: "Ab jetzt rührt ihr keine Tschetschenen mehr an!"
Gegenüber unserer Redaktion äußert sich nun Ekkehard Maaß, Vorsitzender der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft, der seit vielen Jahren tschetschenische Flüchtlinge in Deutschland unterstützt, zum ersten Mal öffentlich zu den Ausschreitungen. Im Telefoninterview beschreibt er die Version, die befreundete Tschetschenen ihm von den Vorkommnissen übermittelt haben.
Maaß erklärt, dass ganz Grèsilles schon länger unter der Vorherrschaft der nordafrikanischen Bande gelitten habe: "Seit Jahren drangsaliert eine Bande von Drogendealern, die aus dem Maghreb stammen, die einheimische Bevölkerung vor Ort – Franzosen ebenso wie Migranten", sagt er. Hilferufe an die französische Polizei und das Innenministerium seien verhallt, ohne dass es eine Reaktion gegeben habe.
Der Angriff auf den jungen Tschetschenen war schließlich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe. Maaß berichtet, dass dieser nach der "brutalen Attacke" seine Landsleute um Hilfe gebeten habe. Anschließend seien junge Tschetschenen aus ganz Europa angereist, um ihn zu rächen und "auf ihre Weise für Ordnung zu sorgen". Die Nachricht war klar: "Ab jetzt rührt ihr keine Tschetschenen mehr an!"
Selbstjustiz mit Eisenstangen und Äxten
Das sei Tradition bei den Tschetschenen, erklärt Maaß: "Wenn ein Tschetschene angegriffen wird, eilen die anderen zu Hilfe." Dass dabei keine Gewalt zum Einsatz kommen dürfe, sei selbstverständlich, betont Maaß. "Ich sage den Tschetschenen, die bei mir in die Beratung kommen, immer wieder, dass der Staat allein das Gewaltmonopol hat und niemand sonst das Recht hat, Gewalt anzuwenden."
Laut Maaß hätten ihm seine Bekannten zugesichert, dass die Tschetschenen in Dijon unbewaffnet gewesen seien. Medienberichte schreiben hingegen davon, dass viele vermummte Männer mit Eisenstangen und Äxten bewaffnet gewesen sein sollen. Auch die Bilder der Ausschreitungen legen nahe, dass beide Gruppen Waffen dabei hatten. Französischen Medienberichten zufolge befanden sich nach den Ausschreitungen zwischenzeitlich vier Mitglieder der tschetschenischen Gemeinschaft in Untersuchungshaft.
Maaß erklärt, dass der Konflikt beigelegt werden konnte, indem beide Gruppen einen Verhandlungsführer benannten, die sich darauf geeinigt hätten, dass es künftig keine Angriffe gegen die tschetschenische Bevölkerung vor Ort mehr geben würde. Das Benennen von Verhandlungsführern sei in solchen Situationen eine effektive Strategie.
"Manchmal muss der Staat dazu gezwungen werden, sein Gewaltmonopol auszuüben"
Der Experte warnt gleichzeitig davor, dass es zu solchen Ausschreitungen auch in Deutschland kommen könnte, wenn der Staat nicht konsequenter gegen die afrikanischen Drogendealer vorgehen würde. "Manchmal muss der Staat dazu gezwungen werden, sein Gewaltmonopol auszuüben. Wenn er das nicht tut, können solche Konflikte folgen."
Das Problem an dieser Art von Auseinandersetzungen sei, dass sie aufgrund engen Zusammenlebens in den Flüchtlingslagern sofort "Massencharakter" annehmen würden. So sei es etwa in Erstunterkünften für Flüchtlinge in Deutschland oft zu Konflikten zwischen Tschetschenen und Arabern gekommen, weil sie "offensichtlich sehr unterschiedlich" seien, so Maaß.
Ähnliche Konflikte hätten – wenn auch deutlich kleinerem Umfang – in Deutschland etwa in Berlin Marienfelde 2014 stattgefunden: Damals hatte es eine Massenschlägerei zwischen Tschetschenen und Syrern gegeben. "Auch an Schulen in Großstädten kommt es immer wieder zu Spannungen", sagt Maaß.
Gleichzeitig kritisiert Maaß aber das einseitige Bild, mit dem die Bevölkerungsgruppe seiner Meinung nach in den Medien dargestellt würde: "Tschetschenen werden andauernd als Islamisten und Terroristen denunziert", klagt er. Dabei gebe es die Tschetschenen nicht. "Die Tschetschenen sind ein normales Volk. Wie in allen Bevölkerungsgruppen gibt es natürlich auch unter ihnen Kriminelle, aber das liegt nicht daran, dass sie Tschetschenen sind."
Quellen:
- "Le Monde": Violences à Dijon: une nouvelle interpellation
- "Le Monde": "C’est les Grésilles ici, pas le Bronx"
- Twitter-Video: @ZohraBitan
- "Le Parisien": Violences à Dijon: le père du jeune Techétchène agressé appelle au calme
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.