Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen steigt – doch in den deutschen Jugendämtern fehlen Personal, Zeit und Geld, um dagegen anzugehen. Das Ergebnis ist Frustration.
"Manchmal müssen wir Kinder in Familien lassen, die wir längst hätten rausholen müssen", berichtet Sophie. "Die Zeit reicht einfach nicht, um die Familien so zu betreuen, wie es pädagogisch notwendig wäre." Deswegen geht sie an vielen Abenden mit einem schlechten Gefühl nach Hause. Sophie ist Sozialarbeiterin beim Jugendamt. Wegen beruflicher Bedenken wurde ihr Name redaktionell geändert – sie bleibt anonym.
Sophie arbeitet im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) – dem zentralen Dienst der Kinder- und Jugendhilfe in Jugendämtern. Sie berät Eltern, Kinder und Jugendliche in Erziehungsfragen, macht Hausbesuche bei Familien, in denen es Anzeichen für Kindesmisshandlung oder -vernachlässigung gibt, und leitet bei Bedarf entsprechende Hilfemaßnahmen ein, wie im schlimmsten Fall die Herausnahme eines Kindes aus der Familie. Darüber hinaus wirkt sie in gerichtlichen Verfahren mit, zum Beispiel bei strittigen Sorgerechtsfragen, und setzt sich dort für die beste Lösung im Sinne des Kindes oder Jugendlichen ein.
Kindern zu helfen und zu sehen, wie sie wieder Freude am Leben finden, empfindet Sophie als großes Geschenk – weshalb sie sich nach ihrem Studium der Sozialen Arbeit für den ASD entschied. Heute gesteht sie, dass sie nicht wisse, wie lange sie diesen Beruf noch ausüben werde. "Halt so lange, wie ich diesem Druck, der damit einhergeht, noch standhalten kann", sagt Sophie.
Deutlich mehr Fälle, "als es sein dürften"
Die Zustände in deutschen Jugendämtern sind alarmierend. Laut der Dienstleistungsgesellschaft Verdi erhalten Familien und Jugendliche bundesweit nicht die notwendige Unterstützung, die sie dringend bräuchten. Der Grund: Es mangelt den Einrichtungen an Personal, Geld und ausreichend Zeit, um die große Zahl an Fällen zu stemmen. In einer aktuellen Befragung des WDR wurden bundesweit 500 Jugendämter kontaktiert, von denen 304 antworteten. Mehr als die Hälfte der Jugendamtleitungen berichteten, dass ihre Mitarbeitenden im ASD stark überlastet sind.
Ein Gefühl, das auch Sophie nur allzu gut kennt. Doch sie nennt es nicht Überbelastung, sondern Standard. "Ich bin das gewöhnt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es auch anders gehen kann." Wie ihre Kollegen trägt sie allein die Verantwortung für einen Bezirk – für die Familien und Kinder dort, die Unterstützung benötigen. Pro Wochenstunde, so Sophie, werde den Sozialarbeitenden ein Fall zugeteilt – für sie wären das 32 Fälle. In der Theorie. "Das geht aber nicht auf", sagt sie. Denn dazu kämen noch Beratungsfälle und Gefährdungsmeldungen. "Am Ende sind es deutlich mehr Fälle, als es sein müssten, als es sein dürften."
Auch Verdi betont die Dringlichkeit, die Fallzahlen im ASD zu begrenzen - und zwar nicht nach dem Maßstab ein Fall pro Wochenstunde. Die Dienstleistungsgewerkschaft fordert eine Obergrenze von maximal 28 Fällen pro Vollzeitstelle, was deutlich unter den Vorgaben von Sophies Arbeitgeber liegt.
Fachkräftemangel in der Sozialarbeit
Die meisten Fälle erforderten Berufserfahrung. Doch, wie Sophie erklärt: "Viele erfahrene Kollegen suchen sich ruhigere Arbeitsstellen oder gehen in den Ruhestand. Und wir finden tatsächlich fast nur junge, unerfahrene Arbeitskräfte." Aus diesem Grund, und wegen krankheitsbedingter Ausfälle, komme es immer wieder vor, dass Stellen monatelang unbesetzt bleiben.
Laut einem Bericht des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) aus dem August 2022 verzeichnet die Sozialarbeit mit 20.600 unbesetzten Stellen die größte Fachkräftelücke. Direkt dahinter folgen die Erzieher, bei denen 20.500 Stellen offen sind. Im Juni 2023 berichtete das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA), dass im Bereich "Gesundheit, Soziales, Lehre und Erziehung" mehr als die Hälfte der offenen Stellen – konkret 56,4% – nicht besetzt werden konnten.
Der Personalmangel betrifft also nicht nur den ASD, sondern auch andere Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe. Auch den Kinderschutzfachdienst, wie Sophie berichtet. Das ist eine spezialisierte Abteilung im Jugendamt, die sich intensiv mit der Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen und dem Kinderschutz beschäftigt. Zeitweise, so Sophie, sei der Kinderschutzfachdienst jedoch so überlastet gewesen, dass er seine Aufgaben nicht mehr erfüllen konnte. Diese hätten schließlich sie und ihre Kollegen übernehmen müssen.
Und das, obwohl ein Arbeitstag ohnehin schon viel zu kurz ist für all die Aufgaben, die anstehen. Besonders viel Zeit koste es zurzeit, Wohngruppen oder andere Unterbringungsmöglichkeiten für Kinder zu finden, die nicht mehr zu Hause wohnen können. "Das ist wirklich schlimm", sagt Sophie. Viele Wohngruppen hätten wegen Fachkräftemangel geschlossen, und die Nachfrage sei so hoch, dass freie Plätze kaum verfügbar seien. "Manchmal telefonieren wir zu sechst mehrere Stunden und fragen 80 bis 100 Einrichtungen, bis wir etwas finden."
Kindeswohlgefährdung in Deutschland steigt stetig
Im allergrößten Zweifel sei schon die Anweisung gekommen, insbesondere für Wochenenden und Feiertage ein Kind mit nach Hause zu nehmen, erzählt Sophie. Zudem gebe es Feldbetten im Keller des Jugendamtes, auf denen im Notfall auch ein Kind mit einem Sozialarbeiter übernachten könne. "Ich habe schon von anderen Jugendämtern gehört, dass das vorgekommen ist. Bei uns zum Glück noch nie. Aber es war schon oft kurz davor." So habe eine Kollegin einmal mit einem Kind im Hotel übernachten müssen, weil keine andere Unterbringung gefunden werden konnte.
Der WDR-Befragung zufolge blieben bei 58 Prozent der befragten Jugendämter wegen fehlender Plätze sogar schon mal Kinder oder Jugendliche länger als angebracht in ihren Familien. Die Folgen für die Kinder sind demnach gravierend. In jedem zehnten Amt kam es bereits zu Gefährdungen von Kindern und Jugendlichen. Im vergangenen Jahr gab es so viele Fälle von Kindeswohlgefährdung – Vernachlässigung, sexuelle, psychische oder körperliche Gewalt – wie noch nie. So stellten die Jugendämter 2023 mindestens 63.700 Gefährdungsmeldungen fest, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden mitteilte. Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Zahl damit um 1.400 Fälle. Den tatsächlichen Anstieg schätzen die Statistiker allerdings deutlich höher ein, nämlich auf 67.300 Fälle. Denn nicht alle Jugendämter haben 2023 ihre Daten gemeldet.
Kinderschutzbund: Jugendämter können gerade so "das Schlimmste verhindern"
Angesichts der Zustände im Jugendamt, die Sophie schildert, haben Sozialarbeiter nicht die Mittel, dem ausreichend entgegenzuwirken. Der Bundesgeschäftsführer des Kinderschutzbundes Daniel Grein erklärt gegenüber unserer Redaktion: "Die Personaldecke reicht derzeit gerade so aus, um das Schlimmste zu verhindern. Sehr viele Familien aber, die einen Anspruch auf Hilfe durch das Jugendamt hätten, fallen durchs Raster." Das sei frustrierend für die Mitarbeitenden in den Jugendämtern und ein Skandal für die betroffenen Kinder.
"Die Politiker haben uns und die Kinder nicht auf dem Schirm. Sie wertschätzen unsere Arbeit nicht und sprechen uns kaum Mittel zu, die unsere Arbeit verbessern könnten."
ASD-Mitarbeiterin
"Oft fühlt es sich eher an wie ein Feuer löschen oder Löcher stopfen. Man kommt nicht an die Wurzel, weil es dafür die Ressourcen nicht gibt", sagt auch Sophie und bezieht sich damit nicht nur auf den Personalmangel, sondern auch auf fehlende finanzielle Mittel.
Denn finanziert werden Jugendämter nicht vom Bund. Berlin formuliert lediglich die Ansprüche, während das Geld die jeweiligen Städte bereitstellen.
"Wir können von Berlin aus nicht in die Planung der einzelnen Jugendämter eingreifen", erklärt Ulrike Bahr (SPD), Vorsitzende des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Deutschen Bundestag, auf schriftliche Anfrage unserer Redaktion. Sie gesteht zwar ein, dass sich das soziale Hilfesystem in einer schwierigen Lage befinde, doch betont weiter: "Wir können auch keine Stellenpläne erstellen, Besoldungsgruppen anheben oder direkt Geld an die Kommunen für die Jugendhilfe überweisen. Da stecken wir in der 'Förderalismusfalle'".
SPD-Politikerin Bahr setzt auf eine positive Wendung
Immerhin werde Sophie und ihren Kollegen ein jährliches Supervisionsbudget zugestanden. "Das soll für die wirklich schweren Fälle aufgewendet werden", erzählt Sophie. Ein Sammelbudget für 25 Sozialarbeiter. Höchstens zehn Sitzungen im Jahr, um die Härtefälle zu besprechen und gemeinsam mit erfahrenen Fachleuten, wie etwa Psychologen, zu reflektieren, wie sie ihre Arbeitsweise verbessern und emotionalen Stress verarbeiten können. "Das reicht bei Weitem nicht", sagt Sophie. Ansonsten keine zusätzlichen Benefits. Keine Fortbildungsmöglichkeiten. Kein Geld für Lernmaterialien. "Das ist wahnsinnig frustrierend", fügt sie hinzu. "Vielleicht sollten die Entscheidungsträger mal einen Tag bei uns hospitieren. Dann könnten sie sehen, womit wir uns täglich beschäftigen und was die Kinder und Jugendlichen jeden Tag aushalten müssen. Damit sie ein Gefühl dafür bekommen, wie wichtig es ist, dass hier tatsächlich finanzielle Mittel fließen."
In Anbetracht aller Missstände fordert Verdi unverzügliche Maßnahmen. "Bund, Länder und Kommunen müssen gemeinsam handeln, um diese Abwärtsspirale zu durchbrechen. Wir brauchen dringend Investitionen in Personal, Strukturen und Rahmenbedingungen, um die wichtigen Aufgaben der Jugendhilfe zu sichern", sagt die stellvertretende Verdi-Vorsitzende Christina Behle. In einem Bericht formuliert Verdi klare Forderungen:
- Einberufung eines gemeinsamen Kinderschutzgipfels von Bund, Ländern und Kommunen zur Erarbeitung eines nationalen Rettungsplans
- Ausstattung der Kommunen mit den notwendigen finanziellen Ressourcen und fachlicher Begleitung durch die Länder
- Einführung bundesweiter Standards für strukturierte Einarbeitungs- und Qualifizierungskonzepte
- Systematischer Ausbau der Studienplätze für die Soziale Arbeit an öffentlichen Hochschulen durch die Länder mit finanzieller Unterstützung durch den Bund
- Begrenzung der Fallzahl im ASD auf maximal 28 pro Vollzeitstelle und bedarfsgerechte Personalplanung
- Einrichtung von Supervision, Fach- und Rechtsberatung als Standard zur Bewältigung der psychischen und fachlichen Belastungen der Beschäftigten
Wenn alle an einem Strang ziehen, könne es gelingen, dass sich die Lage für Fachkräfte in sozialen Berufen entspannt, betont auch Bahr. Dafür brauche es zunächst mehr finanzielle Mittel für zusätzliche Stellen. "Die Zuständigkeit für die Finanzierung liegt bei den Kommunen. Deren finanzielle Möglichkeiten wollen wir stärken", sagt sie. Außerdem müssten die Jugendämter bei ihren Aufgaben entlastet werden, etwa bei der Dokumentationspflicht. "Auch eine gesetzliche Fallobergrenze wird derzeit diskutiert", fährt Bahr fort und betont zudem, dass attraktive Arbeitsbedingungen, Tarifverträge, -sicherheit und ein erleichterter Quereinstieg nötig seien, um Fachkräfte zu gewinnen und zu halten. Auch sei es wichtig, mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz Fachkräften aus dem Ausland den Zugang zur deutschen oder doppelten Staatsbürgerschaft zu erleichtern und die Anerkennung ausländischer Abschlüsse zu vereinfachen.
ASD-Mitarbeiterin: "Die Politiker haben uns und die Kinder nicht auf den Schirm"
Eine lange Liste an Vorhaben, deren Umsetzung aus Sicht des Bundesgeschäftsführers des Kinderschutzbundes Grein oberste Priorität haben sollte: "Die Interessen von Kindern und Jugendlichen in Krisenzeiten sind immer die ersten, die geopfert werden. Das war in der Corona-Pandemie so und es zeigt sich auch bei angespannten Haushaltslagen."
Dem pflichtet Sophie bei: "Die Politiker haben uns und die Kinder nicht auf dem Schirm. Sie wertschätzen unsere Arbeit nicht und sprechen uns kaum Mittel zu, die unsere Arbeit verbessern könnten", sagt sie. Sie glaubt anders als Bahr nicht, dass sich etwas ändern wird. Im Gegenteil, sie befürchtet, dass bald der Punkt erreicht ist, an dem das gesamte System kollabiere.
Bis dahin werde sie jedoch weiterhin versuchen, jeden Tag aufs Neue, zu funktionieren - das System irgendwie aufrechtzuerhalten. "Schließlich habe ich damals Soziale Arbeit studiert, um zu helfen", Das ist ihr Anspruch an sich selbst. "Wenn ich aufhöre, wird es schlimmer." Sowohl für die Kinder als auch für ihre Kollegen.
Verwendete Quellen:
- verdi.de: Jugendämter in der Krise - ver.di fordert Sofortmaßnahmen
- wdr.de: WDR-Recherche zu Jugendämtern: So überlastet ist der Kinderschutz in NRW
- kofa.de: Fachkräftesituation in Gesundheits- und Sozialberufen
- iwkoeln.de: Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken
- tagesschau.de: Kindeswohl immer öfter gefährdet