Für ihre Bürgernähe und Null-Toleranz-Politik gelobt, für griffige Gesetzesnamen belächelt: Seit eineinhalb Jahren ist Franziska Giffey, ehemalige Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln, Familienministerin. Wir checken die Bilanz der SPD-Politikerin, die wegen der Plagiatsvorwürfe im Zusammenhang mit ihrer Doktorarbeit an Rücktritt denkt.
Lange Zeit galt das, was im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zusammengefasst ist, als politisches "Gedöns". Heute ist dem nicht mehr so. Politik wie Gesellschaft haben die Bedeutung des Politikfeldes für eine nachhaltige Zukunft erkannt.
Das Budget des Familienministeriums lag mit 10,3 Milliarden im Bundeshaushaltsplan 2019 vor Wirtschafts- und Entwicklungsministerium, der Haushaltsentwurf für 2020 sieht einen weiteren Anstieg auf 11,8 Milliarden Euro vor. Seit März 2018 steht
Licht und Schatten in Giffeys Amtszeit
Expertin Anette Stein, bei der Bertelsmann Stiftung Programmdirektorin für "Wirksame Bildungsinvestitionen" kennt sich mit Themen wie Kita-Politik, Personalmangel bis Elterngeld aus.
Sie sagt: "Es gibt in Giffeys Amtszeit Licht und Schatten. Wenn man sie mit anderen Ministern vergleicht, ist sie aber sehr erfolgreich." Erfolgreich, das hieße zunächst: beliebt und bürgernah. "Sie hat eine Nähe geschaffen, die andere nicht zustande bringen", meint Stein im Gespräch mit unserer Redaktion. Fotos von Kita- und Altenheim-Besuchen sind dafür immer wieder eindrücklicher Beleg.
Beliebt bei den Bürgern
Auch in Beliebtheitsrankings belegt die 41-Jährige immer wieder einen der ersten Plätze. Beim Ranking von "Spiegel Online" kämpfte sie zeitweise sogar mit der Kanzlerin um die Führungsposition. "Giffey hat dafür gesorgt, dass Familienpolitik in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Sie hält die Themen hoch, die früher als Gedöns abgetan wurden", sagt auch Expertin Stein.
Nun aber zum Inhaltlichen: "Es ist ihr gelungen, drei wichtige Gesetze auf den Weg zu bringen: Das Kita-Gesetz, das Starke-Familien-Gesetz und eine Fachkräfte-Offensive", sagt Stein. Auch wenn die Kommunikationsstrategie der einprägsamen Gesetzesnamen in der Fachwelt auf Stirnrunzeln traf und als Infantilisierung bemängelt wurde, kommt sie bei Bürgern und Medien an. "Giffey weiß, wie man Brücken schlägt", urteilt die Expertin.
Maßnahmen in die richtige Richtung
Durch das "Starke-Familien-Gesetz" wurde der Kinderzuschlag neu gestaltet, das Elterngeld erhöht sowie Leistungen für Bildung und Teilhabe verbessert. 869 Millionen Euro stehen in 2020 bereit. "Die Maßnahmen gehen in die richtige Richtung", lobt Stein. Nicht überraschend aber auch ihr Urteil: "Sie gehen nicht weit genug. Weiterhin besteht ein System, welches nicht gegen Kinderarmut wirkt."
Dabei schreibt das Ministerium selbst auf seiner Website: "Durch die grundlegende Reform des Kinderzuschlags werden 1,2 Millionen mehr bedürftige Kinder erreicht." Stein aber erklärt: "Weiterhin wird ein Großteil der Leistungen – insbesondere das Kindergeld – vollständig auf andere Leistungen, wie etwa SGB II, angerechnet. Das führt dazu, dass die Kinder, die in Armut aufwachsen, nicht profitieren." Jede Kindergelderhöhung komme nicht dort an, wo sie am dringendsten gebraucht werde.
Systemwandel nötig
Nötig vielmehr: ein kompletter Systemwandel. "Das könnte mit einem Teilhabegeld oder einer Kindergrundsicherung geschehen, wobei ein Großteil der bisherigen Leistungen zu einer einzigen finanziellen Leistung zusammengefasst wird", schlägt Stein vor. Diese solle allen Kindern und Jugendlichen zur Verfügung gestellt werden und mit dem steigenden Einkommen von Eltern abschmelzen.
Minuspunkte in Sachen Kinderarmut, Erfolge aber bei der Situation von Alleinerziehenden: "Anders als bislang werden Unterhalt oder Unterhaltsvorschuss nicht mehr vollständig auf den Kinderzuschlag angerechnet. Je nach Alter des Kindes kommen zwischen 60 und 120 Euro mehr an", lobt Expertin Stein.
Kita-Gebühren: Extreme Ungerechtigkeit
Mit dem Gute-Kita-Gesetz investiert der Bund bis 2022 insgesamt 5,5 Milliarden Euro. Ursprünglich stand alleinig die Kita-Qualität im Fokus, in den Verhandlungen kam das Ziel der Entlastung für Eltern bei den Gebühren hinzu. Die Expertin sagt: "Gute Ansätze, aber die zeitliche Limitierung ist problematisch." Die Länder würden sich schwer dazu durchringen, in Bereichen wie Personal zu investieren, wenn die Weiterförderung seitens des Bundes nicht gesichert sei.
In Deutschland herrscht derweil extreme Ungerechtigkeit in puncto Kita-Beitrag, das zeigt auch die interaktive Grafik des "Institutes der deutschen Wirtschaft". Während Berlin die Betreuungsgebühren grundsätzlich abgeschafft hat, liegen die Kosten beispielsweise für ein 18 Monate altes Kind bei einem Jahreseinkommen von 50.000 Euro und einem Betreuungsumfang von 35 Wochenstunden in Köln bei 298 Euro, in Düsseldorf zahlt man mit denselben Eckdaten 125 Euro.
Bildungschancen sind abhängig vom Wohnort
In Steins Augen noch bedenklicher ist die Tatsache, dass in den Kitas unterschiedliche Personalschlüssel vorzufinden sind. "In manchen Bundesländern werden doppelt so viele Kinder von einer Fachkraft betreut wie in anderen. Das gefährdet die Kindesentwicklung", so die Expertin.
Die Qualität einer Kita und damit die Bildungschancen dürften nicht länger vom Wohnort der Kinder abhängig sein. "Wir brauchen endlich Standards, die die Ungleichheit ausgleichen. Das Gute-Kita-Gesetz verschärft die Auseinanderentwicklung", mahnt Stein.
Fachkräfte-Mangel
Die Tatsache, dass laut einer Prognos-Studie bis 2025 in der frühen Bildung bis zu 191.000 Erzieher fehlen könnten, macht die Situation nicht besser. "Es muss so schnell wie möglich etwas passieren. Bund, Länder und Träger müssen zusammenarbeiten", betont Stein.
Das gelte auch für die Fachkräfte-Offensive für Erzieherinnen und Erzieher, mit der mehr Nachwuchs gewonnen werden soll: Eine vergütete Ausbildung für angehende Erzieher zählt dazu. "Das Programm ist gut, aber mit 300 Millionen Euro für vier Jahre finanziell nicht ausreichend ausgestattet", meint Expertin Stein.
Transparenz und Entbürokratisierung
Große Sprünge seien nicht möglich, maximal könnten 5.000 Ausbildungsplätze mitfinanziert werden. "Dann könnte es aber in derselben Einrichtung zwei Gruppen geben: Angehende Erzieher, die ihre Ausbildung selbst finanzieren und solche, die finanziert werden", warnt Stein.
Ihre Devise also: Richtige Richtung, aber bitte mit mehr Elan! Stein wünscht sich, dass die Politik Eltern mehr vertraut, Giffey solle sich dabei an die Spitze stellen. "Das ganze Antragswesen besteht in seiner Form, weil man den Eltern das Geld nicht direkt geben möchte und Zweckentfremdungen befürchtet. Studien beweisen, dass Eltern verantwortungsbewusst mit dem Geld des Staates umgehen."
Antragsstellung wird erleichtert
Beim Bildungs- und Teilhabe-Paket gingen 30 Prozent des Budgets in die Verwaltung und kämen so auf keinen Fall bei den Kindern an. Positiv: Durch das Starke-Familien-Gesetz wird die Antragsstellung in einigen Bereichen erleichtert, da mehr Leistungen pauschal abgerechnet werden können.
Der Aufwand für Verwaltung und Betroffene bleibt dennoch hoch. "Ein Konzept wie die Kindergrundsicherung würde niemals so hohe Missbrauchsquoten haben", hält Stein dagegen.
Verwendete Quellen:
- bmfsfj.de: Bundestag beschließt "Starke-Familien-Gesetz"
- bmfsfj.de: Kita-Träger können sich ab heute für "Fachkräfteoffensive für Erzieherinnen und Erzieher" bewerben
- bmfsfj.de: Bundeskabinett verabschiedet das Gute-KiTa-Gesetz
- Bundesministerium der Finanzen: Regierungsentwurf zum Bundeshaushalt 2019 und Finanzplan bis 2022
- famrz.de: 11,8 Milliarden Euro für das BMFSFJ
- Prognos: Fachkräftesicherung in der Frühkindlichen Bildung
- Interaktive Grafik vom IW
- Beliebtheitsranking von Spiegel Online
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