Vor 75 Jahren konstituierte sich erstmals der Deutsche Bundestag. Bei einer Feierstunde loben Parlamentspräsidentin Bärbel Bas und der frühere Innenminister Gerhart Baum Deutschlands entschiedenen Weg in die Demokratie. Aber sie mahnen auch: Eine Garantie, dass der immer so weiter geht, gibt es nicht.

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Draußen war der Himmel grau, doch in und vor der Turnhalle der früheren Pädagogischen Akademie in Bonn herrschte am 7. September 1949 vorsichtige Aufbruchstimmung. Nach Nazi-Herrschaft, Weltkrieg und Niederlage trat dort zum ersten Mal der Deutsche Bundestag zusammen. In Bonn waren Betriebe und Schulen geschlossen, Tausende versammelten sich auf den Rheinterrassen.

Alterspräsident Paul Löbe (SPD) sagte zur Begrüßung der neuen Abgeordneten in der Akademie: "Die Alten und die Jüngeren sind nun hier vereint in der schweren Aufgabe, an die Stelle der Trümmer wieder ein wohnliches Haus zu setzen und in den Mutlosen eine neue Hoffnung zu wecken."

Bundestag tagte erstmals vor 75 Jahren

75 Jahre sind seitdem vergangen. Was damals bestimmt nicht jeder zu träumen gewagt hatte, ist eingetreten: Die parlamentarische Demokratie mit dem Bundestag als Kern hat in Deutschland Wurzeln geschlagen. Sie hat Wirtschaftskrisen und den Kalten Krieg, gesellschaftliche Umbrüche und Terror von links wie rechts überstanden.

Vor allem ist ein dringender Wunsch vom 7. September 1949 in Erfüllung gegangen. Der Bundestag tagt seit 25 Jahren wieder in Berlin, als Parlament eines vereinigten Deutschlands.

Bärbel Bas in Feierstunde: Politik zu erklären, reicht nicht mehr

Am Dienstagvormittag fällt ein heller Lichtstrahl durch die Kuppel in den Plenarsaal des Reichstags, wo das Parlament mit wenigen Tagen Verspätung seinen 75. Geburtstag feiert. "Eine deutsche Demokratie erschien wie ein gewagtes Experiment", sagt Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) mit Blick auf 1949. Doch dieses Experiment sei gelungen. "Wir feiern heute auch den langen Prozess der Demokratisierung unserer Gesellschaft."

Gleichwohl findet das Jubiläum in rauen politischen Zeiten statt. In Europa tobt wieder ein Krieg mit Folgen auch für Deutschland. Die Inflation, die Folgen einer weltweiten Pandemie, die Erderwärmung, Migrationsbewegungen und ein aufgeheiztes politisches Klima haben für Verunsicherung in der Bevölkerung gesorgt. Und teilweise für erbitterte Auseinandersetzungen im Parlament.

"Viele Menschen trauen der Politik keine Lösungen mehr für ihre Probleme zu", sagt Bas. Umso wichtiger sei es, diese Probleme zu lösen. Es reiche nicht, sich immer nur vorzunehmen, die Politik den Menschen einfach besser erklären zu wollen. Eine diplomatisch verpackte Kritik auch an ihre eigene Partei, die sich genau das immer wieder vornimmt. "Wir können Krisen bewältigen, trotz harter Kontroversen."

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Gerhart Baum warnt vor autoritären Kräften

Ans Rednerpult tritt danach der FDP-Politiker Gerhart Baum, von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister. Der Bundestag sei das erste Parlament der deutschen Geschichte, das sich frei entfalten konnte, sagt er. Die Deutschen hätten bewiesen, dass sie Demokratie können. "Jetzt müssen sie beweisen, dass sie die Demokratie auch tatkräftig verteidigen."

Denn Baum sieht die liberale Demokratie bedroht, der Druck autoritärer Staaten und Bewegungen weltweit habe zugenommen. Russlands Krieg gegen die Ukraine ist für ihn auch ein Krieg der autoritären Kräfte gegen die freiheitlichen Kräfte.

Auch das gesunkene Vertrauen in die Politik treibt ihn um. Baums Appell an die Abgeordneten: Die Politik müsse die Bürgerinnen und Bürger stärker einbeziehen, mehr Mitgefühl zeigen, die Menschen rausholen aus ihrer Vereinzelung, aus den ideologischen Blasen des Internets. Vor allem müsse sie den Menschen Angst vor der Zukunft nehmen. "Angst ist ein ganz hinterhältiger Dämon der freien Gesellschaft."

Historikerin kritisiert Extremisten – AfD fühlt sich angesprochen

Parlamente hätten einen klaren Rahmen und seien doch beweglich und offen für neue Perspektiven, sagte die in Frankfurt an der Oder geborene Historikerin Christina Morina. "Sie sind lebendige und zerbrechliche Orte."

"Populisten und Extremisten treten nicht an, um die parlamentarische Ordnung zu stärken, sondern um sie zu entmachten."

Christina Morina, Historikerin

Morina bekommt zu diesem Zeitpunkt noch Applaus vom gesamten Haus. Später sorgt ihre Rede für Unmut in der AfD-Fraktion. Die Historikerin bezieht Stellung gegen Populisten und Extremisten. Diese "treten nicht an, um die parlamentarische Ordnung zu stärken, sondern um sie zu entmachten", sagt Morina. Die AfD-Abgeordneten fühlen sich offenbar angesprochen und reagieren mit Zwischenrufen. Als sich alle Parlamentarierinnen und Parlamentarier nach Morinas Rede applaudierend erheben, bleibt die AfD-Fraktion sitzen.

Trotzdem endet die Feierstunde mit einem Bild der Einigkeit. Alle Abgeordneten singen im Stehen die Nationalhymne. Danach geht es für sie raus aus dem Plenarsaal und hinein in die Mühlen der parlamentarischen Arbeit: Der Bundestag muss einen Haushalt für das kommende Jahr aufstellen.

Vielleicht wird der eine oder andere Abgeordnete im Ohr behalten, was Gerhart Baum dem Parlament mit auf den Weg gegeben hat: "Halten wir noch besser zusammen bei der Lösung existenzieller Probleme unserer Demokratie. Wir können streiten, aber es gibt eine Grundlage, die wir gemeinsam verteidigen müssen."

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