1.725 Tage: So lange saß Murat Kurnaz unschuldig im US-Gefängnis Guantánamo. Der damals 19-jährige Deutsch-Türke stand unter dem Verdacht, ein Mitglied von Al Kaida zu sein. Seinen Leidensweg zeigt nun der Film "5 Jahre Leben". Wir sprachen mit Regisseur Stefan Schaller und Murat Kurnaz über den Film – und vor allem die Geschichte dahinter.
Herr Kurnaz, Sie waren über vier Jahre in Guantánamo in Haft. Belastet es Sie, den Film zu sehen?
Murat Kurnaz: Nein. Es ist gut, dass meine Geschichte erzählt wird. Ich habe Guantánamo erlebt, die Erinnerungen sind in meinem Kopf, die werde ich nicht mehr los. Ich habe ja auch ein Buch zu meinen Erlebnissen geschrieben. Ich bin froh, dass jetzt auch der Film dazu läuft.
Es gab lukrative Angebote aus Hollywood, Ihr Buch "5 Jahre meines Lebens" zu verfilmen. Warum haben Sie abgelehnt?
Kurnaz: Hollywood wollte eine große Sache aus meiner Geschichte machen und hat auch viel Geld geboten. Aber ich hatte das Gefühl, dass sie meine Geschichte verfälschen würden. Also dass sie mich schlecht dabei aussehen lassen würden und die USA besser, als es in Wirklichkeit war.
Irgendwann kam dann Stefan Schaller auf mich zu. Er hat mir erzählt, dass er meine Geschichte schon lange verfolgt hat und dass er meinen Anwalt schon kontaktiert hat, als ich noch in Guantánamo war. Man kann es davor natürlich nicht wissen, aber als wir uns kennengelernt haben, dachte ich mir, dass er vielleicht doch der Richtige ist, um das Buch zu verfilmen.
Herr Schaller, Sie und Herr Kurnaz sind ein Jahrgang, haben aber ganz unterschiedliche Lebensgeschichten. Wie schwer war es, sich in sein Schicksal hineinzuversetzen?
Stefan Schaller: Als wir uns das erste Mal getroffen haben, war da gleich ein Bezug da, vielleicht auch, weil wir eine Generation sind. Wir konnten dadurch über dieselben, ganz banalen Dinge reden, die man in der Jugend erlebt hat.
Dann ist da aber eine ganz andere Entwicklung. Ich bin auch komplett anders aufgewachsen als Murat. Ich bin kein Deutsch-Türke, war nie Kampfsportler, habe nie als Türsteher gearbeitet. Dann musste ich auch nie Schicksalsschläge hinnehmen wie Murat, der Freunde verloren hat. Das war für ihn ja der entscheidende Wendepunkt in seinem Leben.
"Es war völlig egal, ob du was mit Terrorismus zu tun hattest oder nicht"
Herr Kurnaz, nach dem Tod ihres Freundes haben Sie sich dem Islam zugewandt, sind im Oktober 2001 nach Pakistan gereist. Eigentlich sollte es eine kurze Reise werden. Doch es kam anders.
Kurnaz: Ich wollte nur für ein paar Wochen nach Pakistan, um den Islam besser kennenzulernen. Ich hatte mein Rückflug-Ticket schon in der Tasche und war gerade mit dem Bus auf dem Weg zum Flughafen. Dann kamen wir an einen Checkpoint. Ein paar Männer kamen mit Maschinenpistolen rein. Ich bin wegen meiner hellen Hautfarbe aufgefallen und musste aussteigen. Am Anfang dachte ich, dass er nur meinen Pass oder mein Visum kontrollieren will. Dann wurde ich verschleppt. Das Problem war, dass die Amerikaner aus Flugzeugen Flyer abgeworfen haben, in denen ein Kopfgeld von 3.000 Dollar für Mitglieder von Al Kaida geboten wurden. Daraufhin haben Polizei, Militär und Privatpersonen Leute gejagt, die nicht Pakistaner waren.
Wann haben Sie verstanden, dass Sie nicht mehr so schnell in ihre Heimat zurückkehren werden?
Kurnaz: Erst kam ich nach Kandahar. Am Anfang haben sie mir noch gesagt, dass ich bald freigelassen werde. Immer wieder hieß es 'heute', 'morgen', 'in einer Woche'. Als ich bei den Amerikanern war, dachte ich immer noch, dass es maximal ein paar Wochen dauern wird und ich gehen darf, sobald sie feststellen, dass ich der Falsche bin.
Doch dann wurden es Monate – bis ich festgestellt habe, dass sie gar nicht wissen wollen, wer ich bin. Ich sollte einfach nur eine Zelle füllen, die geschaffen wurde, um der Welt zu zeigen, dass sie die für den 11. September verantwortlichen Terroristen geschnappt haben. Da war ich schon in Guantánamo.
Wie haben Sie die Verhöre in Guantánamo erlebt? Hatten Sie dort auch noch die Hoffnung, schnell wieder freizukommen?
Kurnaz: Ich habe eine Zeit lang versucht mitzumachen, damit sie nicht sagen können, ich würde mich widersetzen. Aber dann habe ich gemerkt, dass es völlig egal ist, ob du was mit Terrorismus zu tun hast oder nicht. Das ist denen völlig egal gewesen. Du sollst einfach nur gestehen und unterschreiben, dass du ein Mitglied von Al Kaida bist und dass du mit den Taliban zusammen gegen die USA gekämpft hast. Das habe ich aber nicht! Und deswegen konnte ich auch nichts gestehen. Dafür haben sie mich dann bestraft.
Schaller: "Ich wollte kein Doku-Drama machen"
Woher haben Sie die Kraft genommen, die fünf Jahre in Gefangenschaft zu überleben?
Kurnaz: Es war mein Glaube, der mir die Hoffnung gab. Es kam immer wieder vor, dass ich unter Folter in Ohnmacht gefallen bin. Aber ich hatte das Glück, immer wieder aufzuwachen. Andere hatten das nicht. In meinem Fall war es so: Je mehr sie mich gefoltert haben, desto mehr habe ich dagegen angekämpft. An dem Punkt, an dem der Film endet, also nach dem zweiten Jahr, habe ich in den Verhören auch kein einziges Wort mehr gesagt.
Ich danke Gott, dass ich es heil herausgeschafft habe. Deswegen habe ich meiner Meinung nach jetzt auch die Verpflichtung, in die Öffentlichkeit zu gehen und zu versuchen, den Menschen zu helfen, die weltweit gefoltert werden. Da geht es nicht nur um Guantánamo.
Wie realistisch ist der Film am Ende geworden?
Kurnaz: Der Film erzählt nicht die kompletten fünf Jahre, aber das, was zu sehen ist, entspricht schon der Realität. Es gab natürlich noch andere Dinge, die ich erlebt habe, die der Film nicht erzählt. Zum Beispiel extreme Gewalt, wie in Kandahar, aber das ist nicht der Fokus des Films. Der Film konzentriert sich auf den psychologischen Aspekt der Vernehmungen in Guantánamo, weniger auf die extreme Gewalt. Viele, die den Film sehen, sagen mir aber, dass sie ihn sehr eindringlich finden.
Schaller: Ich wollte kein Doku-Drama wie zum Beispiel "Road to Guantánamo" machen, den Film gibt es ja auch schon. Ich habe eine spezielle Dramaturgie gebaut, das Verhältnis Vernehmer zu Gefangenem in den Mittelpunkt gestellt. Ich fand es interessanter, die Folterungen, die Murat über sich ergehen lassen musste, über die Sprache dem Zuschauer näherzubringen. Das ist einerseits eindringlicher, auf der anderen Seite lässt es dem Zuschauer mehr Raum. Die Gewalt einfach nur dokumentarisch abzubilden, hatte für mich wenig Reiz. Mir ging es um etwas anderes: Ich hatte das Gefühl, dass Murat das System 'Guantánamo' verstanden hat und er die Willkür deswegen überlebt hat. Das wollte ich zeigen.
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