28 Jahre nach der Wiedervereinigung sehen die Fakten gut aus: Die Lebensverhältnisse in Ost und West haben sich weitgehend angeglichen. Doch die Gefühle der Bürger passen nicht dazu. Der Politikwissenschaftler Klaus Schroeder glaubt gar, die Kluft zwischen Ost und West sei groß wie nie. Er sagt: "Wir brauchen noch 15 Jahre, bis die Wiedervereinigung auch in den Köpfen angekommen ist."
28 Jahre nach dem Fall der Mauer steht es auf den ersten Blick gut um die deutsche Wiedervereinigung.
Das Vermögen der Ostdeutschen ist in den vergangenen 15 Jahren um 75 Prozent gestiegen. Die Wirtschaftsleistung der Region hat sich seit der Wiedervereinigung verdoppelt. Faktisch war der Abstand zwischen Ost- und Westdeutschland noch nie so gering wie jetzt.
Auch die Bundesregierung zieht in ihrem Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit eine positive Bilanz: Seit 2009 wachsen Unternehmen und Einkommen in Ostdeutschland demnach kontinuierlich, die Infrastruktur verbessert sich zusehends und die Lebenserwartung der Bürger in Ost und West hat sich weitgehend angeglichen.
Die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland hat sich von durchschnittlich 17 Prozent im Jahr 1999 auf 7,6 Prozent im Vorjahr reduziert und sich damit dem westdeutschen Durchschnitt von 5,3 Prozent angenähert. Die Löhne erreichen mittlerweile 82 Prozent des Westniveaus.
Insgesamt zeigt sich also, dass die Bundesregierung ihr im Grundgesetz festgeschriebenes Ziel, "gleichwertige Lebensverhältnisse" in Ost- und Westdeutschland herzustellen, zwar noch nicht erreicht hat, sich aber auf einem guten Weg befindet.
"45 Prozent der Ostdeutschen fühlen sich fremd"
Doch neben den Fakten existiert noch eine zweite Wahrheit: Sie steckt in den Köpfen und Herzen der Bundesbürger und lässt sich wohl am besten als gefühlte Wiedervereinigung bezeichnen. Und da sieht die Sache schon ganz anders aus.
Gerade in den vergangenen Monaten scheint es, als trenne Deutschland nach wie vor eine Kluft entlang der Grenze der ehemaligen DDR.
Klaus Schroeder ist wissenschaftlicher Leiter des Forschungsverbundes zum SED-Staat und Professor für Politikwissenschaften an der FU Berlin. Er erforscht das Befinden der Nation hinsichtlich der Wiedervereinigung seit über 20 Jahren und sagt zwar, dass "eine sehr breite Mehrheit im Westen und eine kleine Minderheit im Ost mit der Wiedervereinigung zufrieden" ist. Doch 45 Prozent der Ostdeutschen hätten Probleme mit der Wiedervereinigung: "Sie fühlen sich fremd im Westen und haben eine Aversion und Wut gegen Westler. Das äußert sich in Demonstrationen und im Wahlverhalten."
So haben im Osten populistische Parteien aus dem linken und rechten Spektrum bei der letzten Bundestagswahl 40 Prozent der Stimmen geholt, im Westen waren es nur etwa 18 Prozent. Und seitdem sei der Graben zwischen Ost und West eher noch tiefer geworden, glaubt der Experte.
Bevormundung durch den Westen?
Eines der Hauptprobleme liege darin, dass die Ostdeutschen sich vom Westen bevormundet fühlten, deshalb zögen sie häufig Vergleiche mit der Honecker-Zeit. "Damals wurden die Menschen von der SED-Diktatur bevormundet und heute haben sei das gleiche Gefühl gegenüber Angela Merkel und den Regierungsparteien", sagt Schroeder.
Das Gefühl sei sehr tief verankert und zuletzt durch die Migrationspolitik wiederbelebt worden. "Die Ostdeutschen sind der Meinung, dass die Entscheidung, Flüchtlinge nach Deutschland zu lassen, ihnen übergestülpt wurde. Darum sagen sie heute: Das wollen wir nicht."
Zwar gäbe es diese Gefühle teils auch in Westdeutschland, doch würden sie im Osten durch einen anderen Aspekt noch verstärkt: Der Sozialneid sei im Osten viel stärker ausgeprägt als im Westen, argumentiert der Politikexperte, weil er unmittelbar nach der Wiedervereinigung durch die PDS, den Vorgänger der Linkspartei, gesät worden sei.
Unterschiedliche Wahrnehmungen
"Damals wurde nicht angesprochen, wie die SED die DDR auf etwa wirtschaftlicher und ökologischer Ebene ruiniert hat. Sondern die PDS hat damals so getan, als ob Ost und West praktisch über Nacht finanziell und sozial gleichgestellt werden müssten", sagt Schroeder. "Die Ausgangslage wurde dabei gar nicht mehr beachtet und das Ergebnis war ein Gefühl des Zu-Kurz-Gekommen-Seins im Osten."
Außerdem fühlten sich die Ostdeutschen durch die aus ihrer Sicht arroganten Westdeutschen ungerecht behandelt. Auch etwa, weil diese sie als Opfer eines Unrechtsregimes sehen. Doch diese Wahrnehmung entspricht nicht dem Gefühl der Ostdeutschen.
"Die Menschen in Ostdeutschland haben in einem System gelebt, das sie sich nicht ausgesucht haben. Und trotzdem haben sie versucht, in seinen Zwängen ein guter Mensch zu sein: Gut zu arbeiten, sich um ihre Kinder zu kümmern", sagt Schroeder. Und so wollten sie auch von den Westdeutschen wahrgenommen werden.
Langer Weg bis zur Wiedervereinigung in den Köpfen
Es sei es wichtig, die Ostdeutschen nicht mit dem System gleichzusetzen, in dem sie gelebt haben, sagt Schroeder, weil man sie dadurch abwerte. "Die Ostler wollen nicht bemitleidet werden. Sie wollen ernst genommen und auf Augenhöhe betrachtet werden."
Bis die Wiedervereinigung auch in den Köpfen aller Deutschen vollzogen ist, müssen noch viele Jahre ins Land gehen, glaubt Schroeder und erklärt seine These an einem Beispiel aus der Medizin: "Wenn ein Raucher aufgehört hat zu rauchen, sagen die Ärzte, dass die körperlichen Schäden erst dann behoben sind, wenn er genauso lange nicht Nichtraucher ist, wie er vorher Raucher war."
Auf Deutschland übertragen bedeute dies: "Nach einer Trennung, die 45 Jahre angedauert hat, wird es auch 45 Jahre lang dauern, bis sich Deutschland erholt hat. Wir werden also noch über 15 Jahre brauchen, bis die Wiedervereinigung auch in den Köpfen angekommen ist."
Verwendete Quellen:
- Interview mit Klaus Schroeder, Wissenschaftlicher Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat; Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin
- Tagesschau: Ergebnis der Bundestagswahl 2017
- Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: "Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit"
- Welt: "Hört auf, den Osten zu verdammen!"
- Handelsblatt: "Die Regierung lobt den Aufbau Ost – zuletzt ist er nur zu langsam vorangekommen"
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