• Das Attentat auf den Journalisten Peter R. de Vries in Amsterdam steht wahrscheinlich in Zusammenhang mit einem großen Drogenprozess.
  • In den Niederlanden kämpfen mehrere Banden seit Jahren um die Vorherrschaft beim Drogenhandel.
  • Längst ist das Land bei der Produktion von synthetischen Drogen und beim Handel mit Kokain eine der wichtigsten Drehscheiben Europas.

Mehr aktuelle News finden Sie hier

"Bunker" nennen Amsterdamer das schmucklose Gebäude im Viertel Osdorp. Ein fünftklassiges Bürogebäude im Stil der 1990er-Jahre, zwei Stockwerke, kleine Fenster. Kaum vorstellbar, dass hier den größten Auftragskillern, Drogenbossen und Waffenhändlern des Landes der Prozess gemacht wird.

Der Reporter Peter R. de Vries kam oft hierher. Erst vor wenigen Wochen hatte er den Bunker betreten, mit Rosinenbrötchen in einer Plastiktüte für die Mittagspause. Er besuchte den großen Prozess gegen eine Drogenbande. Denn de Vries ist Vertrauensperson des Kronzeugen. Und nun kämpft er in einem Amsterdamer Krankenhaus um sein Leben.

Am Dienstag war der 64-Jährige mitten in Amsterdam niedergeschossen worden. Alles weist darauf hin, dass der Anschlag mit dem Prozess "Bunker" zu tun hat. Denn zuvor waren auch der Bruder und der Anwalt des Kronzeugen ermordet worden. 17 Personen sind in dem sogenannten Marengo-Prozess angeklagt, es ist eines der größten Verfahren der Justizgeschichte der Niederlande. Die Drogenbande soll auch verantwortlich sein für mehrere Auftragsmorde.

Hauptangeklagter ist der Unterweltboss Ridouan Taghi (43). Jahrelang stand er auf der "Most Wanted"-Liste von Europol, bis er im Dezember 2019 in Dubai festgenommen und an die niederländische Justiz überstellt wurde. Die Staatsanwaltschaft beschuldigt Taghi, die kriminelle Vereinigung wie eine "gut geölte Tötungsmaschine" geführt zu haben. Killer sind leicht zu finden, sagen Ermittler. Für ein paar tausend Euro gebe es genug junge Männer in sozial prekären Vierteln, die jemanden umbringen würden.

Taghi, Niederländer marokkanischer Herkunft, gilt als einer der größten Drogenbosse. Seine Bande war in den sogenannten Mocro-Krieg verwickelt. Seit 2012 hatten sich Bandenmitglieder blutig befehdet wegen einer am Rotterdamer Hafen verschwundenen Ladung von 200 Kilogramm Kokain. Jahrelang wurde das Land aufgeschreckt von mehr als 30 Liquidierungen, wilden Schießereien und Verfolgungsjagden. Längst ist dieser Mocro-Krieg verfilmt, als erfolgreiche TV-Serie "Mocro-Maffia".

"Dies ist ein Angriff auf den Rechtsstaat", sagt der Justizminister

2017 fand der Bandenkrieg ein vorläufiges Ende. Denn Nabil B., ein Komplize von Taghi, schloss einen Deal mit der Justiz. Für eine neue Identität und vermutlich auch eine Stange Geld war er bereit, auszupacken.

Kurze Zeit später aber wurde sein Bruder Reduan B., der eine Werbeagentur besaß und nichts mit den Geschäften von Nabil zu tun hatte, ermordet. Der Mörder hatte sich zu einem Bewerbungsgespräch angemeldet und Reduan erschossen, von hinten, mit sechs Kugeln. Und im September 2019 wurde der Anwalt Derk Wiersum vor seinem Haus in Amstelveen bei Amsterdam ermordet. Wiersum war der Verteidiger des Kronzeugen Nabil B.

Damals war für Justizminister Ferd Grapperhaus die Grenze erreicht. "Dies ist ein Angriff auf den Rechtsstaat", sagte er und erklärte dem organisierten Verbrechen den Krieg. Eine Sondereinheit wurde gebildet, 150 Millionen Euro wurden investiert. Doch viel hat es nicht gebracht, stellt das Nachbarland nun fest nach dem Mordanschlag auf seinen berühmtesten Kriminalreporter.

"Die Niederlande sind ein Narco-Staat, in dem Drogenkriminelle zu viel Macht erlangt haben", kommentierte die Zeitung "De Volkskrant" ernüchtert. Schon länger warnen Experten davor, dass die Unterwelt das legale Leben infiltriert und untergräbt - die Wirtschaft, die Verwaltung. "Es ist inzwischen schon normal geworden, dass Journalisten, Politiker und Bürgermeister bedroht werden", sagte der Chef der Polizeigewerkschaft, Jan Struijs, dem TV-Nachrichtenmagazin "Nieuwsuur" am Mittwochabend.

Längst sind die Niederlande bei der Produktion von synthetischen Drogen und beim Handel mit Kokain eine der wichtigsten Drehscheiben Europas, sagte auch Sascha Strupp, Drogenexperte bei Europol in Den Haag. "Ein Grund ist die ausgezeichnete Logistik." In dem Handelsland profitiert eben auch das organisierte Verbrechen vom gut ausgebauten Straßennetz und dem Rotterdamer Hafen - dem größten Europas.

Kokain wird oft in Containern versteckt zwischen Bananen oder Autoteilen geschmuggelt. Korrupte Hafenbeamte verschaffen den Kriminellen Zugang zu den Containern. Die schnappen sich die gefüllten Sporttaschen und verschwinden, wie Strupp erklärt. Und jedes Jahr wird es mehr. 2020 entdeckten die Fahnder 40.000 Kilogramm Drogen am Hafen.

Nur zehn Prozent der Drogenkriminellen werden gefasst

Die Banden haben eine komplette Infrastruktur aufgebaut für Produktion und Vertrieb. Im vergangenen Jahr etwa wurde im Dorf Nijeveen im Osten des Landes die bisher größte Kokain-Wäscherei entdeckt. In einer umgebauten Pferdemanege hatten Kriminelle täglich bis zu 200 Kilogramm Kokain "gewaschen". Es war eines von 108 Drogenlabors, die 2020 aufgerollt worden waren.

Das hat Folgen auch für Belgien und Deutschland. Labore werden auch ins Grenzgebiet verlegt und Müll - tonnenweise hochgiftige und explosive Chemikalien - in der Landschaft abgeladen.

Werden die Niederlande den Krieg gegen die Drogenkriminalität verlieren? Der Chef der Polizeigewerkschaft ist pessimistisch. Nur zehn Prozent der Drogenkriminellen würden ergriffen. "Weil wir die Zeit, die Leute und die Mittel nicht haben." (dpa/mko)

Drogen waren auf dem Weg nach Europa: Sieben Tonnen Kokain in Ecuador beschlagnahmt

Die Behörden in Ecuador haben Anfang der Woche mehr als sieben Tonnen Kokain beschlagnahmt. Die Drogen sollten nach Spanien verschifft werden, der Straßenwert wird auf 280 Millionen Euro geschätzt.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.