Tanzen bis zum Umfallen: Die merkwürdige Krankheit Tanzwut befiel im Mittelalter europaweit und zu unterschiedlichen Zeiten hunderte Menschen gleichzeitig. Sie tanzten tagelang mitten auf der Straße – bis sie nicht mehr konnten und einige sogar vor Erschöpfung starben. Der Auslöser der Tanzausbrüche ist bis heute nicht klar.
Eines Sommertages im Juli 1518 begann Madame Troffea plötzlich zu tanzen. Die Frau drehte sich ohne musikalische Begleitung auf den Straßen von Straßburg – und hörte einfach nicht mehr auf. Nach und nach schlossen sich andere an, nach einer Woche sprangen 34 Menschen hemmungslos herum.
Ein harmonischer Tanz war das nicht: Ihre Glieder zuckten wie bei Krämpfen. Einen Monat später waren es bereits 400 zwanghaft tanzende Frauen, Männer und Kinder. Sie wollten weder zum Essen noch zum Schlafen pausieren.
Das merkwürdige Geschehen endete vielfach tragisch: Die Menschen bewegten sich so lange hin und her, bis sie vor Erschöpfung und Übermüdung zusammenbrachen. Einige hatten blutige Füße, anderen quoll Schaum aus dem Mund und sie starben.
Die rätselhafte Krankheit breitete sich in Europa aus
Das rätselhafte Phänomen ist heute unter den Namen Tanzwut, Choreomania oder Tanzkrankheit bekannt. Zeitgenössische Chronisten berichteten von ersten Vorfällen im 7. Jahrhundert, die meisten gab es im 14. und 15. Jahrhundert, ausschließlich in Europa. Im 17. Jahrhundert war plötzlich Schluss, die Tanzwut trat nicht mehr auf.
Die Krankheit zog 1374 Aachen und Köln in ihren Bann. Innerhalb weniger Wochen breitete sie sich bis nach Belgien, in den Nordosten Frankreichs und in die Niederlande aus. Auch in Erfurt, Limburg und Augsburg befiel die Krankheit viele Bürger.
Musik, Exorzismen oder Gebete als Kur
Die Behörden wussten nicht, wie sie mit dem unheimlichen Phänomen umgehen sollten. Vielerorts glaubten sie, dass die Tanzenden von selbst wieder aufhören würden, wenn man sie gewähren ließe – oder sie sogar unterstützte. So wurden teilweise sogar Musikanten engagiert, wie die Süddeutsche schreibt. Nun hörten die Tänzer allerdings erst recht nicht mehr auf, sich zu drehen und zu bewegen.
Die Kirche versuchte es mit Exorzismen, verordnete Gebete oder christliche Rituale. Die Straßburger Tänzer zum Beispiel wurden zu einem Schrein des Heiligen Veit gebracht. Sie zogen rote Schuhe an, die mit einem Kreuz bemalt und mit Weihwasser besprengt wurden, wie es in der Straßburger Chronik von Daniel Specklin aus dem 16. Jahrhundert heißt. Damit schritten sie einmal um den Schrein – und waren angeblich geheilt.
"Heißes Blut" als Auslöser der Tanzwut?
Mittelalterliche Ärzte erklärten die Anfälle mit "heißem Blut": Dieses habe das Gehirn erhitzt und die Menschen zu ihrem zwanghaften Tanz angestachelt. Der berühmte Arzt, Alchemist und Mystiker Paracelsus meinte im 16. Jahrhundert, die Krankheit sei "natürlich" und entstehe aus "Einbildungen", heißt es im "Historisch-literarisches Anekdoten- und Exempelbuch" von 1824. Paracelsus war es auch, der den Begriff der "Tanzwut" prägte.
Aber wie begründen moderne Historiker und Mediziner die Tanzexzesse? Dazu gibt es verschiedene Theorien, einig sind sich die Experten nicht. Ein Problem ist, dass heute vielfach unklar ist, was wirklich passierte. Starteten die Tänze spontan, oder waren sie organisiert? Manche behaupten, dass vor allem Frauen betroffen waren. Beweise gibt es allerdings nicht. Möglicherweise gab es an verschiedenen Orten unterschiedliche Gründe für den Ausbruch der Krankheit. Als sicher gilt, dass die Opfer sich nicht mehr kontrollieren konnten und in einen unbewussten Zustand verfielen.
Vergiftung, Spinnenbiss oder Massenhysterie?
Die Symptome der Tanzwut erinnern teilweise an die der Gehirnerkrankung Chorea Huntington, aber auch an die von Enzephalitis, Epilepsie oder Typhus. Waren die Menschen also erkrankt? Einer anderen These zufolge hatten die Betroffenen freiwillig oder unfreiwillig halluzinogene Pflanzen wie Nachtschattengewächse zu sich genommen, oder sich mit Mutterkorn vergiftet.
In Italien könnte ein Spinnenbiss die Tanzwut ausgelöst haben: Der kann zu unwillkürlichen Zuckungen führen. Doch weder Gehirnerkrankung, Vergiftung noch Spinnenbiss erklären, wie gleichzeitig Hunderte von Menschen von der Krankheit befallen wurden konnten.
Für viele Experten sind deshalb andere Erklärungen wahrscheinlicher. Womöglich gerieten die Betroffenen in eine Art Massenhysterie, weil sie durch eine massive Hungersnot Wahnvorstellungen entwickelten, schreibt der Spiegel. Oder sie tanzten, um dem furchtbaren Alltag zu entfliehen, der von Hunger, Krankheiten und Armut geprägt war. Sie steigerten sich so in die hypnotischen Bewegungen hinein, dass sie schließlich die Kontrolle verloren.
Der Fluch des Heiligen Veit
Eine weitere plausible Theorie geht davon aus, dass die Menschen in eine Art religiösen Wahn verfallen waren: Sie glaubten, der Heilige Veit habe sie verflucht. In der Katholischen Kirche wird Veit als Märtyrer und Schutzpatron verehrt.
Im Mittelalter glaubte man, er könne Krämpfe heilen – und gleichzeitig Menschen bestrafen, indem er ihre Muskeln zucken ließ. So entstand ein Teufelskreis, meint der Historiker John C. Walter: Die Angst vor dem Fluch des Veit war so groß, dass jedes neue Tanz-Opfer den Glauben noch verstärkte, dass es ihn wirklich gab.
Für diese These spricht, dass die Tanzwut im Mittelalter auch "Veitstanz" genannt wurde. Außerdem begannen die Tanzausbrüche häufig am oder kurz vor dem Gedenktag des Heiligen am 15. Juni – und sie endeten häufig an Orten und Schreinen, die Veit gewidmet waren, so wie auch in Straßburg im Jahr 1518.
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