Vor zehn Jahren wurden massenhaft Fälle von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche publik. Was als Brief an ehemalige Schüler eines Gymnasiums startete, entwickelte schnell eine Eigendynamik und wurde zum Skandal für die Kirche. Arbeitsgruppen, Fonds und Missbrauchsbeauftragte wurden in der Konsequenz eingerichtet. Opfer und Kirchenvertreter ziehen jedoch eine ernüchternde Bilanz.

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Zunächst war es nur eine Schlagzeile. Am 28. Januar 2010 titelte die "Berliner Morgenpost": "Canisius-Kolleg: Missbrauchsfälle an Berliner Eliteschule". Doch dieser Schlagzeile sollten hunderte weitere folgen: Sie löste die öffentliche Debatte über den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche aus, machte tausende Missbrauchsfälle publik.

Traurige Bilanz der ab 2013 erhobenen MHG-Studie (benannt nach den Institutsstandorten Mannheim, Heidelberg und Gießen): Mindestens 3.677 Kinder und Jugendliche wurden zum Missbrauchsopfer von 1.670 Klerikern. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.

Dass ihr Leid endlich gesehen, diskutiert, geahndet werden kann, ist vor allem einem zu verdanken: Jesuitenpater Klaus Mertes, damaliger Direktor des Canisius-Kollegs. Er war es, der in einem Brief die Missbrauchsfälle im Berliner Jesuiteninternat öffentlich machte und damit eine Entwicklung anstieß, die die Kirche vor neue Grundsatzentscheidungen stellte.

Wie kam der Missbrauchsskandal ins Rollen?

"Drei Männer aus dem Abiturjahrgang 1980 kamen zu mir und erzählten mir von dem Missbrauch, den sie erlebt hatten durch zwei Jesuitenpatres und Lehrer in den 70er und 80er Jahren", sagte Mertes im Gespräch mit dem "Evangelischen Pressedienst" (epd).

Weil die Geschichten glaubwürdig waren, sei ihm klar gewesen, dass es mindestens 100 weitere Opfer geben musste. Mertes handelte. In einem öffentlichen Brief wandte sich der Direktor an ehemalige Schüler der 70er und 80er Jahre. Seine Botschaft: "Das Schweigen muss gebrochen werden".

Dutzende Betroffene meldeten sich in Reaktion auf Mertes‘ Brief, weitere Ordensschulen gerieten in den Fokus. Im Februar wurden Vorwürfe gegen das Benediktinergymnasiums im oberbayerischen Kloster Ettal laut.
Wenige Monate später wurden Missbrauchsfälle bei den Regensburger Domspatzen, am Kolleg St. Blasien und am Aloisiuskolleg in Bonn-Bad Godesberg publik, ebenso im Erzbistum München und Freising. Neben seelischem und körperlichem Leid förderten die Meldungen die systematische Vertuschung der Verbrechen zutage.

Welche Reaktionen gab es damals?

Generalvikar Klaus Pfeffer (Bistum Essen) sagt rückblickend: "Das war ein Schock. Schnell wurde deutlich, wie viel unter der Oberfläche liegt und dass über uns ein ähnlicher Tsunami hinwegbrechen würde, wie in den Jahren zuvor in den USA."

Die Berichterstattung über das Thema sexualisierte Gewalt schlug hohe Wellen – wohl nicht zuletzt aufgrund des hohen Renommees des Canisius-Kollegs, welches 1925 gegründet wurde und im Herzen Berlins liegt. Bischof Gerhard Müller sagte damals, die Medien betrieben "eine Kampagne gegen die Kirche."
Schnell erreichte der Skandal auch die politische Ebene: Die damalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger forderte von der Kirche "endlich konstruktive Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden."

Welche Konsequenzen wurden gezogen?

Noch ehe die katholische Kirche selbst Konsequenzen zog, taten es ihre Mitglieder: 181.193 Mitglieder traten in Deutschland aus der Kirche aus. Die große Austrittswelle konnte auch die Entschuldigung seitens der Bischöfe im März 2010 nicht verhindern.

"Wir waren bis 2010 sehr ungeübt darin, wie wir mit Meldungen zu Missbrauchsfällen umgehen", gibt auch Pfeffer zu. "Wir haben aber unsere Verfahren schnell weiterentwickelt, um mit unabhängigen Missbrauchsbeauftragten und externen Beratern Hinweise auf sexuelle Gewalt konsequent zu verfolgen", so Pfeffer.

Die Deutsche Bischofskonferenz sorgte für die Einrichtung einer Telefon-Beratung. Außerdem seien umfangreiche Präventionsmaßnahmen angelaufen und Arbeitsgruppen eingerichtet worden.

Die Bischofskonferenz präsentierte ein Modell zur materiellen Anerkennung des erlittenen Unrechts – viele Opfer erhielten seitdem einen Pauschalbetrag von 5.000 Euro, teilweise wurden auch Therapien oder Rentennachzahlungen finanziert. Papst Benedikt XVI. traf 2011 bei seinem Deutschlandbesuch fünf Missbrauchsopfer.

Was sagen die Opfer heute?

Den Opfern reicht all das nicht. Zehn Jahre nach dem Missbrauchsskandal leiden viele von ihnen noch immer. Matthias Katsch war damals einer der drei Alumni, die sich vertrauensvoll an Pater Mertes wandten. Heute ist er Sprecher des Opferverbandes "Eckiger Tisch". Seine Bilanz: Die Aufarbeitung ist noch lange nicht beendet. Das sagte Katsch im Gespräch mit dem "Spiegel".

Auch die Betroffene Claudia Adams, die als Kindergartenkind von einem katholischen Pfarrer sexuell missbraucht wurde, zeigt sich zehn Jahre später im Gespräch mit unserer Redaktion unzufrieden. Als Opfer fühlt sie sich noch heute als "Last", die die Kirche zu tragen habe und am liebsten verdrängen würde.

Neue Leitlinien begrüßt Adams, fragt aber: "Was nützen Präventionsverordnungen und Schulungen, wenn es Priester gibt, die sich wehren und an solchen Präventionsschulungen nicht teilnehmen?"

Ein Dorn im Auge ist ihr, dass es Priester gibt, die trotz Vorwürfen des sexuellen Missbrauches weiter zelebrieren durften. "Es fällt mir bis heute schwer zu glauben, dass Priester aus dem Bistum Trier, die mit Vorwürfen sexuellen Missbrauchs konfrontiert wurden, nicht mehr tätig sein sollen. Schließlich kann der Missbrauchsbeauftragte Ackermann selbst die Frage 'Wohin mit auffällig gewordenen Priestern?' bis heute nicht beantworten."

In puncto Hilfe, Unterstützung, Beratung und Entschädigung sei "wenig bis nichts passiert", kritisierte indes Katsch. Bislang habe es lediglich Anerkennungszahlungen gegeben. "Wir warten auf die Antwort der Bischöfe auf unsere Vorschläge für eine faire Entschädigung in Höhe von bis zu 400.000 Euro pro Person. Die Bistümer und Orden sollten dafür in einen Fonds einzahlen", so Katsch weiter. Dafür sollten auch Kirchensteuermittel eingesetzt werden.

Außerdem vermisst Katsch Unterstützung von Seiten der Katholiken, die kein Kirchenamt innehaben – beispielsweise dem Zentralkomitee der Katholiken. Aus der Politik habe sich niemand "eindeutig auf die Seite der Betroffenen gestellt", so Katsch bei der Vorstellung seines Buches "Damit es aufhört" in Berlin. Bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung gäbe es Transparenzmängel, außerdem sei bislang kein Vorgesetzter straf- oder kirchenrechtlich verurteilt, der vertuscht und verheimlicht habe.

Was sagt die Kirche heute?

Die Bilanz, die Pfeffer heute zieht, ist ebenfalls nüchtern. "Wir stehen noch am Anfang", sagt der Generalvikar im Gespräch mit unserer Redaktion. Die komplexen Zusammenhänge, die zu den Missbräuchen führten, seien in weiten Teilen der katholischen Kirche immer noch nicht hinreichend verstanden worden.

Es handele sich nicht um eine Vielzahl von Einzeltaten, vielmehr gebe es systemische Zusammenhänge in der katholischen Kirche, die den sexuellen Missbrauch begünstigt und oft auch ermöglicht hätten. "Durch Aufarbeitungsstudien mit unabhängigen Experten müssen wir noch mehr in die Tiefe der Fallgeschichten eintauchen", fordert Pfeffer und verweist auf bereits laufende oder bald beginnende Studien in vielen Bistümern.

Der Interventionsbeauftrage Peter Frings aus dem Bistum Münster hält ein Wegducken der Kirche nicht mehr für möglich. „Personalentscheidungen müssen transparenter laufen und man muss Hinweisen energischer nachgehen", fordert er gegenüber unserer Redaktion.

Kirche muss sich selbst hinterfragen

Pfeffer ist sich sicher: "In der Aufarbeitung wird es noch viele schwierige Erkenntnisse geben, die die Kirche zwingen, sich selbst zu hinterfragen." Stichworte seien die Personalarbeit im Blick auf Geistliche, Pflichtzölibat und die Einbindung von Frauen. "Wir müssen über die überhöhte Bedeutung des priesterlichen Amtes sprechen, welches nur von ehelosen, "asexuellen" Männern ausgeübt werden kann", so Pfeffer.

"Die Mehrzahl der Priester wurde nach etwa 12 Berufsjahren zum Täter. Das deutet darauf hin, dass auch die spezifische Situation des Berufes eine große Rolle spielt und es Veränderungsbedarf gibt", so Pfeffer.

Zur Debatte um Entschädigungen meint er: "Das ist eine komplizierte Frage, die wir nicht nur kirchenintern lösen können. Es gibt große Unterschiede – Missbrauchsfall ist nicht gleich Missbrauchsfall." In vielen Fällen habe es kein juristisches Verfahren gegeben, etwa weil Beschuldigte längst tot seien. Das mache es sehr schwer, gerechte Kriterien zu finden für die Bewertung der Frage "Wer bekommt welche Summe für was?". Klar sei aber auch: "Wir brauchen jetzt eine schnelle Klärung und dürfen die Betroffenen nicht noch länger warten lassen."

Kirche hat an Glaubwürdigkeit verloren

Um mangelnder Unterstützung entgegenzutreten, sieht Pfeffer eine gesamtgesellschaftliche Sensibilisierung geboten. "Das Thema Sexuelle Gewalt und Missbrauch wird von vielen Menschen weggeschoben und tabuisiert", sagt er. Öffentliche und innerkirchliche Diskussion hätten sich zudem sehr auf Priester fokussiert. "Missbrauch kommt aber auch in anderen Bereichen der Kirche und der Gesellschaft vor. Deshalb brauchen wir eine viel größere Sensibilität in der gesamten Gesellschaft", fordert Pfeffer.

Frings meint aber auch: "Die Kirche hat enorm an Glaubwürdigkeit verloren. Wenn wir über Missbrauch sprechen, hat sie sie komplett verloren." Sie habe einen hohen Moralanspruch in diesem Bereich selbst nicht erfüllt und stehe insoweit sicherlich auch zurecht am Pranger.

Ob sich auch auf politischer Ebene etwas ändern muss, wagt Frings nicht zu beurteilen: "Wir haben genug Probleme vor der eigenen Haustür. Es steht uns nicht zu, der Politik Vorschriften zu machen." Nur eine behutsame und ausdauernde Auseinandersetzung könne zeigen: "Wir haben es kapiert und stellen uns der Verantwortung." Der Reformprozess "Synodaler Weg", der nun startet, sei eine gute Möglichkeit dafür.

Über die Experten:
Klaus Pfeffer ist Generalvikar und Moderator der Bischöflichen Kurie im Bistum Essen. Er studierte Theologie in Bochum und Innsbruck und wurde 1992 zum Priester geweiht. Pfeffer war fast 20 Jahre als Jugendpastoral tätig.
Peter Frings ist seit April 2019 Interventionsbeauftragter bei Fällen sexuellen Missbrauchs im Bistum Münster. Dabei hat der Jurist die Federführung bei Verdachtsfällen, in denen ehren-, neben- oder hauptamtliche Mitarbeiter des Bistums involviert sind.
Claudia Adams engagiert sich in der Opferinitiative "Missbit", welche Missbrauchsopfer durch Angehörige der katholischen Kirche im Bistum Trier unterstützt. Die Initiative wurde 2010 gegründet und versteht sich als unabhängige Selbsthilfeorganisation von Betroffenen. "Missbit" organisiert Veranstaltungen und Diskussionen mit Betroffenen und Fachleuten zum Thema, veranstaltet Demonstrationen und andere öffentliche Aktionen.

Verwendete Quellen:

  • BR.de: Missbrauch in der katholischen Kirche
  • Melanie Verhovnik: Medienkampagne oder schlechtes Krisenmanagement? - Podiumsdiskussion zur Berichterstattung über Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirche (PDF)
  • Kirche und Leben: Missbrauch – Opfer-Sprecher vermisst Unterstützung vom ZdK
  • Morgenpost.de: Canisius-Kolleg: Missbrauchsfälle an Berliner Eliteschule
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