Der Fall der getöteten Luise aus Freudenberg wirft die Frage nach der Strafmündigkeit auf. Denn die mutmaßlichen Täterinnen sind selbst noch Kinder. Welche Regelungen sieht das Gesetz hier vor? Dazu haben wir den Kriminalpsychologen Rudolf Egg befragt.

Ein Interview

Herr Egg, nach dem Mord an Luise fragen wir uns: Wie werden Kinder überhaupt zu Mördern?

Rudolf Egg: Das ist eine sehr schwierige Frage. Derartige Fälle sind extrem selten, sodass man keine umfangreichen Erfahrungen wie bei Erwachsenen hat. Ich persönlich habe schon in vielen Strafprozessen, bei denen es um Mord oder Totschlag ging, mitgewirkt, hatte aber noch nie mit einem Tötungsdelikt zu tun, bei dem ein Kind als Täter beschuldigt wurde. Ich nehme an, dass Streitigkeiten, die Kinder ohnehin haben, bei manchen Kindern auch weiter gehen können als bei einer alltäglichen Schulhofrauferei – insbesondere, wenn sie selbst Gewalterfahrungen gemacht haben. Da geht es um Neid, Anerkennung, Beleidigungen, einfach um Auseinandersetzungen, die Kinder sowieso haben, die dann aber extrem werden. Solche Fälle sind aber so selten, dass sie in der Ausbildung und in der Praxis nur eine sehr geringe Rolle spielen.

Wie kommt eigentlich die Altersgrenze von 14 Jahren, ab der man in Deutschland strafmündig ist, zustande?

1923 wurde in der Weimarer Republik ein Jugendgerichtsgesetz erlassen, der Vorgänger unseres jetzigen Jugendgerichtsgesetzes. Dabei wurde die Altersgrenze auf 14 Jahre festgelegt. Vor hundert Jahren hatten die meisten Menschen acht Jahre Schulausbildung, dann machten sie eine Lehre, und danach galt man als erwachsen. Meine Vermutung ist, dass die Grenze von 14 Jahren daher rührt. Diese Altersgrenze ist aber kein Naturgesetz. Andere Länder machen das anders, was generell weder besser noch schlechter ist. Entscheidend ist schließlich nicht, wo der Staat die Strafmündigkeit ansetzt, sondern welche Hilfsangebote er bietet. Bei jungen Menschen soll die Erziehung, die Hilfe zu einer positiven Entwicklung im Fokus stehen, nicht die Strafe. Man steckt sie nicht einfach ins Gefängnis, denn man will sie dazu bringen, nicht dauerhaft straffällig zu werden.

Geistige Entwicklung und die Strafmündigkeit

Wieso ist man in anderen Ländern bereits früher oder auch später strafmündig?

Wie einzelne Länder ihre Strafgesetze gestalten, ist das Ergebnis eines gesellschaftlichen und politischen Prozesses. Und dieser ändert sich auch immer wieder. Nur ein Beispiel: Vor rund 50 Jahren konnten homosexuelle Männer noch ins Gefängnis kommen, seit ein paar Jahren dürfen sie heiraten. Und in 50 Jahren wird man wahrscheinlich auf die heutige Zeit zurückschauen und sich über unsere Gesetze und Regelungen wundern. In der Schweiz zum Beispiel können Kinder ab 10 Jahren strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, bis 2007 lag diese Grenze sogar bei sieben Jahren. Das heißt aber nicht, dass Kinder in der Schweiz ins Gefängnis kommen können, ein Freiheitsentzug ist auch dort erst ab 15 Jahren möglich; im Vordergrund stehen vielmehr sogenannte Schutzmaßnahmen wie persönliche Betreuung und ambulante Behandlung. In besonderen Fällen kann auch die Unterbringung in einer Erziehungseinrichtung angeordnet werden.

Halten Sie die 14-Jahres-Grenze denn für angemessen?

Letztlich handelt es sich um eine willkürliche Grenze, die der Gesetzgeber festgelegt hat, die sich aber nach meiner Einschätzung im Wesentlichen bewährt hat. Selbstverständlich entwickeln Kinder aus psychologischer Sicht schon sehr viel früher so etwas wie ein moralisches Gewissen, also eine Sicht von "richtig" und "falsch". Reaktionen auf Fehlverhalten müssen aber altersgerecht erfolgen und vor allem die zukünftige, hoffentlich positive Entwicklung der Kinder beachten.

Hat sich das "geistige" Alter in den letzten Jahren verändert? Sind Kinder mittlerweile vielleicht eher in der Lage, Recht und Unrecht zu erkennen?

Die geistige Reife, also die intellektuelle Entwicklung, hat sich nicht so sehr verändert. Was sich jedoch verändert hat, sind die Möglichkeiten, die Kinder heutzutage haben. Viele Zwölfjährige besitzen heute ein Telefon. Vor einigen Jahrzehnten hatte vielleicht nicht mal die Familie eines. Kinder können heute also viel früher in die Welt von Erwachsenen hineinwirken oder daran teilhaben. Und damit hat sich auch das Wissen über die Dinge vermehrt. Ein Beispiel: Sie können Kinder nicht vor den Nachrichten aus dem Krieg schützen, denn sie erfahren es sowieso.

Fall Luise: Braucht es eine Änderung der 14-Jahres-Grenze?

Sollte sich also an der 14-Jahres-Grenze in Deutschland etwas ändern?

Das denke ich nicht. Die wichtigen Fragen sind eher: Wie kommen die Jugendämter ihrer Arbeit nach? Sind die zuständigen Behörden und Hilfseinrichtungen finanziell und personell ausreichend ausgestattet? Gibt es genügend Unterstützung und Hilfsangebote für Familien mit gefährdeten Kindern? Strafrecht muss immer das letzte aller Mittel sein, vorher sollten soziale Hilfen und pädagogische Maßnahmen stehen.

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Sind die 14 Jahre in Deutschland eine starre Grenze? Oder kann in Einzelfällen davon abgewichen werden?

Im Jugendgerichtsgesetz ist festgelegt, dass ein Jugendlicher strafrechtlich verantwortlich ist, wenn er zu der Zeit der Tat reif genug ist, sein Unrecht einzusehen und danach zu handeln. Auch ein über 14-Jähriger wird also im Einzelfall für eine von ihm begangene Tat nicht bestraft, wenn das zuständige Gericht feststellt, dass er von seinem Entwicklungsstand her mangels Reife noch nicht hinreichend verantwortlich ist.

Über den Experten: Prof. Dr. Rudolf Egg ist Fachpsychologe für Rechtspsychologie. Sein Schwerpunkt ist die Kriminalpsychologie. Unter anderem arbeitet er als Gutachter für Gerichte und Justizvollzugsanstalten.
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