Wirtschaftliche und politische Probleme haben die organisierte Kriminalität in Ecuador erstarken lassen. Die Zahl der Morde ist in den vergangenen Jahren drastisch gestiegen. Ist Ecuador auf dem Weg zu einem Narco-Staat?
Ecuador galt längere Zeit als weitgehend skandalfrei und stabil. Doch seit einigen Jahren schwächelt die Wirtschaft, und die politische Kontinuität ist dahin. Spätestens seit Präsident Guillermo Lasso voriges Jahr das Parlament auflöste, fällt Ecuador mehr und mehr in Instabilität und Chaos.
Nutznießer dieser Entwicklung sind Drogenbanden, die sich seither einen enthemmten und brutalen Kampf um Marktanteile und Macht liefern. Während der Staat schwächelt, macht sich die organisierte Kriminalität breit – bis in die entlegensten Winkel, wie Journalisten des Magazins Mongabay und der investigativen Rechercheplattform Código Vidrio berichten.
Der Podocarpus Nationalpark im Südosten Ecuadors ist schwer zugänglich. Seine geschützte Lage im Andenhochland macht ihn zur Heimat von rund 1000 Pflanzenarten, die nur dort vorkommen. Außerdem sind hier der seltene Andenbär, der Bergtapir oder der Nordpudu, die kleinste Hirschart der Welt, heimisch.
Aber die Idylle ist trügerisch. Nicht nur illegale Goldsucher stören das sensible Naturparadies. Seit einigen Monaten drängt auch die Drogenbande "Los Lobos" in das Biotop und greift gierig nach dem Gold, notfalls mit Gewalt.
Goldvorkommen waren schon lange bekannt
Dass die Region um San Luis goldreich ist, wurde in den 1970er-Jahren entdeckt. Zum Abbau kam es aber nicht. Der Goldpreis war nicht hoch genug, um das Edelmetall gewinnbringend in der entlegenen Region zu schürfen. Zudem kam die Politik dem Abbau zuvor und machte das rund 550 Quadratkilometer große Gebiet zum Nationalpark.
Inzwischen sieht das anders aus. Vom gestiegenen Goldpreis angelockt, kamen zunächst Glücksritter in die Region und schürften entlang der Flüsse. Mittlerweile ist die Nachfrage nach dem Edelmetall weltweit stark gestiegen, seit Mitte 2015 hat sich der Goldpreis auf knapp 2400 Dollar je Unze nahezu verdoppelt. Die Zahl der illegalen Minen steigt.
Gold als wirtschaftlich zweites Standbein – neben dem Drogengeschäft
Mit Waffengewalt drang zuletzt die Drogenbande "Los Lobos" in das Naturschutzgebiet vor, unterwarf einige größere Goldminen und kassiert seitdem mit, inklusive Nebengeschäfte: Versorgung der Arbeiterschaft mit Lebensmitteln, Drogen, Prostituierten. Und nicht selten verdienen die wenigen lokalen Ordnungskräfte mit oder drücken ein Auge zu.
Für die Banden, die ursprünglich darauf spezialisiert waren, Kokain aus den Drogenküchen der Nachbarländer Peru und Kolumbien durch ecuadorianische Häfen nach Mexiko, die USA oder Europa zu schleusen, ist das Goldgeschäft aber auch aus anderen Gründen interessant.
Zum einen erlaubt es ihnen, ihre Geschäftsfelder breiter aufzustellen, was die Abhängigkeit vom Drogengeschäft minimiert. Zum anderen eignet sich das Goldgeschäft bestens für die Geldwäsche; die Nachfrage ist hoch, die Kontrollen sind lax und die Herkunft selten nachvollziehbar.
Bandenkrieg in den Knästen
Die "Lobos" sind eine Absplitterung der bekanntesten Drogenbande Ecuadors: "Los Choneros". Laut der Non-Profit-Organisation "Insight Crime" ist dieses Kartell in den späten 1990er-Jahren als Drogenhandelsorganisation entstanden, mit Sitz in der Stadt Chone, einem Ort in Ecuadors westlicher Provinz Manabí.
Die Behörden identifizierten die Gruppe ursprünglich als bewaffneten Zweig eines kolumbianischen Drogenkartells, das die pazifischen Seehandelsrouten nach Mexiko und in die USA kontrollierte. 2011 griff die ecuadorianische Regierung durch, verhaftete einige Anführer des Kartells und steckte sie ins Gefängnis. Ein fataler Schritt: So entwickelten sich die "Choneros" zu einer der härtesten Gefängnisbanden des Landes.
Im Jahr 2020 starb "Chroneros"-Anführer Jorge Luis Zambrano, genannt Rasquiña, nach seiner Haftentlassung im Zuge eines Machtkampfes. Damit entstand ein Machtvakuum, in das seither verschiedene Gruppen drängen. Neben den "Lobos" sind dies die "Tiguerones" und die "Chone Killers", von den Ermittlern als "Nueva Generacíon", neue Generation zusammengefasst.
Sie sollen Geschäftsbeziehungen bis nach Albanien unterhalten. 2021 starteten sie die ersten konzertierten Angriffe auf den gemeinsamen Gegner, die "Choneros". Dabei hatten sie es in Gefängnisrevolten auf die designierten Nachfolger Rasquiñas abgesehen. Die Attentate misslangen, die beiden überlebten. Dafür ließen 80 andere Häftlinge ihr Leben, ein blutiger Bandenkrieg nahm seinen Anfang.
Kartelle vermutlich stärker als die Polizei
Jorge Vincente Paladrones ist Jurist und Kriminologe beim International Drug Policy Consortium (IDPC), einem globalen Netzwerk, das sich auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene für eine personenzentrierte, rechtskonforme Drogenpolitik einsetzt. Er schätzt, dass die "Lobos" alleine mehrere Tausend Mitglieder haben.
"Die Zahl der Mitglieder aller Gruppen könnte sogar höher sein als die Summe der Polizisten", schreibt er in einem Bericht. Die Organisation Insight Crime schätzt die Mitgliederzahl der "Lobos" auf rund 8000, verteilt auf Gefängnisse und entlang der Schmuggelrouten.
Die Kartelle sind auch verantwortlich für einen starken Anstieg der Gewalt in Ecuador, wie die jährlichen Erhebungen des Ecuadorian Organized Crime Observatory (EOCO) zeigen. Seit 2019 stieg die Mordrate von 7 pro 100.000 Einwohner auf 47,25 – sie hat sich versiebenfacht. In absoluten Zahlen heißt das: 2019 wurden in Ecuador 1187 Menschen ermordet, 2023 waren es 8004.
Mord an Präsidentschaftskandidaten schockte das Land
Vorläufiger Höhepunkt der Gewalt: Im Präsidentschaftswahlkampf 2023 wurde der Kandidat Fernando Villavicencio in Quito auf offener Straße erschossen. Villavicencio wollte im Falle eines Wahlsieges den Kampf gegen die organisierte Kriminalität und deren Komplizen im Staatsapparat ausweiten. Zwei Monate später waren auch die mutmaßlichen Täter tot – man fand sie erhängt in zwei Gefängnissen.
Seit Jahrzehnten ist in Lateinamerika kein so hochrangiger Politiker mehr ermordet worden. Schon gar nicht im ehedem eher stabilen Ecuador. Villavicencio war einer von sieben Politikern und Kandidaten, die im Wahlkampf 2023 starben. Der Politologe Will Freeman vom Council on Foreign Relations (CFR) in New York sieht dies als Beleg für ein stark verändertes politisches Klima in Ecuador.
Er sieht das Land auf dem Weg zum Narco-Staat, in dem nicht mehr staatliche Institutionen wie Regierung, Polizei oder Militär die öffentliche Sicherheit garantieren können, sondern Drogenbanden die Herrschaft an sich gerissen haben. "Viele Ecuadorianer befürchten nun, in einem Drogenstaat zu leben. Die Gewalt, gepaart mit der anhaltenden wirtschaftlichen Stagnation, hat die größte Auswanderungswelle seit einer Generation ausgelöst. Unter den Migranten, die den Darién Gap, einen gebirgigen Dschungel an der Grenze zwischen Kolumbien und Panama, überquerten, wurden die Ecuadorianer im Jahr 2023 nur noch von den Venezolanern übertroffen", schreibt er in einem Beitrag des CFR.
Düstere Prognose: Ecuador schon ein Narco-Staat?
Auch die Organisation Insight Crime zeichnet eine düstere Prognose für Ecuador. In den vergangenen Jahren hätten die "Lobos" eine Schlüsselrolle beim Zusammenbruch der öffentlichen Sicherheit gespielt. "Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich das schnell ändern wird." Die Regierung habe bislang keine frischen Ideen präsentieren können. In der Zwischenzeit seien die "Lobos" jedoch stärker geworden.
Die weltweit gewachsene Nachfrage nach Gold, auch aus illegaler Herkunft wie aus den kleinen Flussminen im Nationalpark Podocarpus, dürften diesen Trend weiter befeuern – und dabei helfen, die Macht der "Lobos" zu festigen.
Verwendete Quellen
- pulitzercenter.org: Ecuador’s Los Lobos Narcotrafficking Gang Muscles In on Illegal Gold Mining
- gold.org: Gold spot prices
- maaproject.org: Expansión de la minería en la amazonía de ecuador
- idpc.net: The mask of narco-terrorism: The faces of the war on drugs in Ecuador
- oeco.padf.org: Boletín anual de homicidios intencionales en Ecuador 2023
- insightcrime.org: Lobos
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