- In der Silvesternacht wurden Einsatzkräfte von Rettungsdiensten und Feuerwehren zum Teil gezielt angegriffen.
- Das Ausmaß der Gewalt ist neu – das Phänomen selbst nicht.
- Wie lässt sich die zunehmende Gewaltbereitschaft gegenüber Helfern erklären?
An Silvester herrscht in deutschen Großstädten immer ein gewisses Maß an Anarchie. Mit einer Sektflasche in der einen Hand und Feuerwerkskörpern in der anderen bevölkern angetrunkene Menschen die Straßen. Das Verletzungs- und Unfallrisiko in dieser Nacht ist hoch – für Rettungsdienste und Feuerwehren ist es eine der härtesten Nächte des Jahres. Beim Jahreswechsel 2023 kam es nun bundesweit zu massiven Angriffen auf genau diese Helfer – und das Ausmaß der Brutalität, die ihnen entgegenschlug, war aus Sicht vieler Experten neu.
In Großstädten wie Berlin, Hamburg, Essen oder Köln wurden Rettungskräfte der Feuerwehr zum Teil gezielt angegriffen, mit Pyrotechnik beschossen und in Hinterhalte gelockt, Einsatzfahrzeuge wurden beschädigt und geplündert. Vielerorts konnte die Feuerwehr Brände nur unter Polizeischutz löschen. Ein Sprecher der Feuerwehr Berlin-Neukölln sprach gegenüber dem Sender RTL von einer "völlig neuen Qualität" der Gewalt.
Haben wir es mit einer allgemeinen "Verrohung" zu tun?
Andreas Zick, Leiter des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld, sieht in den Ausschreitungen eine Art vorläufigen Höhepunkt eines vorherrschenden Trends. "Dass Silvester so gewalthaltig war, reiht sich ein in einen Anstieg an Gewalt in der gesamten Gesellschaft", sagte der Sozialpsychologe im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Zwar waren die Straftaten insgesamt in den letzten Jahren rückläufig, doch Attacken gegen Polizei- und Rettungskräfte nehmen zu: Laut polizeilicher Kriminalstatistik sind die tätlichen Angriffe auf Vollstreckungsbeamte, Feuerwehr und Rettungskräfte von 2018 bis 2021 um 22 Prozent gestiegen. Für das Jahr 2022 liegen noch keine Zahlen vor.
Eine Umfrage des Deutschen Roten Kreuzes beschäftigte sich schon 2019 mit der Gewalt bei ihren Einsätzen. Demnach waren die Befragten mindestens einmal innerhalb eines Jahres Gewalt ausgesetzt. Die meisten Angriffe geschahen nachts, in Großstädten und häufig auf Großveranstaltungen. Bei den Tätern handelt es sich demnach fast ausschließlich um Männer.
So auch bei den jüngsten Ausschreitungen: Allein in Berlin wurden in der Silvesternacht 145 Verdächtige vorübergehend festgenommen - darunter 139 Männer mit insgesamt 18 unterschiedlichen Nationalitäten. Sind diese Gewaltexzesse und Angriffe auf Rettungskräfte also vor allem ein Migrationsproblem, so wie es große Boulevardmedien und AfD-Politiker behaupten?
"Kriminalität hat keinen Migrationshintergrund"
Aus Sicht von Dr. Seyran Bostancı vom Deutschen Zentrum für Migrations- und Integrationsforschung greift dieser Erklärungsversuch viel zu kurz. "Kriminalität hat keinen Migrationshintergrund", sagt die Sozialwissenschaftlerin. Als Ursache für die Gewaltausbrüche wie zuletzt an Silvester macht sie vielmehr strukturelle Probleme verantwortlich. "Aus früheren Studien wissen wir, dass diese Faktoren wie Ausgrenzung, Bildungsbenachteiligung oder ein schwacher sozioökonomischer Hintergrund dazu führen können, dass es zu Gewaltausbrüchen kommt", sagt Bostancı.
Faktoren, die auch Menschen ohne Migrationshintergrund betreffen. Zudem engagierten sich viele Menschen mit Migrationsgeschichte selbst bei Rettungsdiensten und Feuerwehr und würden selbst zu Opfern. Die Ursachensuche allein auf die kulturelle Herkunft von Tätern zu beschränken, sei daher nicht nur pauschalisierend, sondern berge auch das Risiko, dass sich diese Gruppen gesellschaftlich noch stärker ausgegrenzt fühlten.
Unbestreitbar ist, dass die Gewalt zum überwältigenden Teil von jungen Männern ausgeht. Generell führe die Kombination aus Männergruppen und Alkohol und Drogen zu einem erhöhten Gewaltpotenzial, so Bostancı. Das lässt sich auch bei Fußballspielen beobachten, bei denen vermeintliche Fans den öffentlichen Nahverkehr lahmlegen oder Rettungskräfte behindern. Dieses Muster bringt die Sozialwissenschaftlerin mit toxischer Männlichkeit in Zusammenhang. "Wir müssen uns als Gesellschaft fragen, welche Männlichkeitsbilder wir Jugendlichen vermitteln."
Gewalt ein Ausdruck falscher Männlichkeitsbilder
Schon früh würden Kinder auf Geschlechterrollen geprägt, in denen Männer noch immer "keinen Schmerz" spüren dürfen und Gewalt unter Jungs eher toleriert wird als unter Mädchen. "Das führt später dazu, dass männlich sozialisierte Menschen weniger Kompetenzen darin haben, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, und deshalb eher zu Gewalt greifen." Die Gewalt könne daher sowohl ein Ausdruck von Frust als auch von falschen Männlichkeitsbildern sein.
Ähnlich äußert sich auch Sozialpsychologe Zick zu den Hintergründen der Gewalt an Silvester und fügt hinzu: "Es sind gewaltorientierte Gruppen, die ein Feindbild von Polizei teilen, und viele andere, die die Gelegenheit nutzen oder sich anheizen lassen", sagte Zick dem RND. Dadurch werde Gewalt zur Norm und als Erlebnis inszeniert. "Und das bremst jede andere Norm wie etwa jene, dass wir gehalten sind, Rettungs- und Ordnungsdienste ihren Job der Sicherung machen zu lassen."
Was Menschen antreibt, ausgerechnet Rettungskräfte zu attackieren, können Experten nicht klar benennen. Studien gibt es dazu nicht, nur Erklärungsversuche. Manche Experten halten die Angriffe auf Helfer für einen Angriff gegen Staat und Demokratie. Rettungskräfte werden demnach als Vertreter des Staates betrachtet – obwohl Freiwillige Feuerwehren, DRK und andere Rettungsdienste keine staatlichen Institutionen sind.
"Wer Berufskleidung trägt, wer einer Organisation angehört […] der steht unter Verdacht, Handlanger des Systems, ein sogenannter 'Systemling', ein Ausführender der politischen Staatsmacht zu sein: Unter dem Deckmantel der guten Tat werde die Unterdrückung der Bevölkerung vorangetrieben", sagte der Kulturwissenschaftler Daniel Hornuff im Deutschlandfunk Kultur. Andere Experten vermuten, dass es gar nicht explizit um ein Feindbild geht, sondern dass Rettungskräfte vielmehr Opfer einer Gruppendynamik werden oder als "Störenfriede" wahrgenommen würden, die beim Feiern störten.
An den Gesetzen liegt es nicht
Doch wie lassen sich Szenen wie an Silvester in Zukunft verhindern? 2017 hatte die Große Koalition eine Gesetzesverschärfung beschlossen und die Paragrafen 114 und 115 StGB eingeführt. Seitdem können Menschen, die Polizei oder Rettungskräfte angreifen, zu Haftstrafen von bis zu fünf Jahren verurteilt werden. Geldstrafen sind dabei nicht vorgesehen. Das sollte, so die Hoffnung, eine abschreckende Wirkung haben und die tätlichen Übergriffe reduzieren - was die polizeiliche Kriminalstatistik der vergangenen Jahre jedoch widerlegt.
"Wir brauchen keine härteren Strafen", sagte Feuerwehrverbandspräsident Karl-Heinz Banse der Nachrichtenagentur dpa noch vor dem Jahreswechsel. "Ich möchte nur, dass diese Strafen durchgesetzt werden." Häufig können bei derartigen Übergriffen keine Tatverdächtigen in der Menge ausgemacht werden, sodass es gar nicht erst zu einem Prozess kommt. Gewerkschaften von Polizei und Feuerwehr fordern daher nach den jüngsten Silvester-Krawallen, Einsatzfahrzeuge mit Dashcams und Mitarbeiter mit Bodycams auszustatten, um Angriffe in Zukunft besser dokumentieren zu können.
Ein Böllerverbot, wie es ebenfalls von Polizeigewerkschaften gefordert wird, hält auch Dr. Seyran Bostancı für sinnvoll. "Das käme nicht nur der Umwelt und den Tieren zu Gute, sondern würde auch zu weniger Ausschreitungen an Silvester führen." Dass es zu einem bundesweiten Böllerverbot kommt, ist allerdings unwahrscheinlich: Nicht zuletzt die CDU hat sich als größte Oppositionspartei dagegen ausgesprochen. Die Gewaltbereitschaft mancher Gruppen von jungen Männern könnte ein solches Verbot aber ohnehin nicht verhindern. "Dagegen helfen langfristig nur präventive Maßnahmen. Dazu gehört auch der Abbau von strukturellem Rassismus und bessere Bildungschancen."
Verwendete Quellen:
- thieme-connect.com: DRK-Umfrage "Erfahrungen zur Gewalt gegen Rettungskräfte"
- rnd.de: Randale in der Silvesternacht: Gewaltforscher Zick will keine Migranten verantwortlich machen
- bka.de: Polizeiliche Kriminalstatistiken
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