• Aus Sicht des Medizinrechtlers Alexander Ehlers ist eine generelle Impfpflicht gegen Corona unter bestimmten Voraussetzungen nicht verfassungswidrig.
  • Ehlers sieht sie aber als letztes Mittel und würde Regelungen mit Zugangsbeschränkungen für Nicht-Geimpfte oder Belohnungen für Geimpfte vorziehen.
  • Dafür, dass Impfverweigerern der Zugang etwa zu Theatern verwehrt wird oder dass sie für Tests künftig zahlen sollen, sieht er keine verfassungsrechtlichen Hürden.
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Herr Professor Ehlers, Sie beraten unter anderem das Bundesgesundheitsministerium zu den verschiedensten rechtlichen Fragen. Derzeit wird ja darüber nachgedacht, wie mehr Zug in die Impfkampagne gebracht werden könnte. Das Thema Impfpflicht schwebt im Raum, auch wenn es kaum jemand direkt ausspricht. Wie ist das aus rechtlicher Sicht: Kann der deutsche Staat seine Bürger zu einer Impfung verpflichten?

Alexander Ehlers: Ja, das kann er. Wenn der Staat eine Gefährdung für das Leben und die Gesundheit seiner Bürger feststellt oder die Gefahr sieht, dass das Gesundheitssystem überfordert wird, muss er Maßnahmen ergreifen. Das hat er in der COVID-19-Pandemie ja auch getan, in Form von Änderungen des Infektionsschutzgesetzes und der diversen Verordnungen, die erlassen wurden.

Aber eine Impfpflicht steht bislang nicht drin. Kritiker einer solchen Impfpflicht sagen, dass sie eine Grundrechtsverletzung darstellen würde - nämlich des Artikels 2, der körperliche Unversehrtheit garantiert.

In einer Situation wie einer Pandemie muss ein Staat immer abwägen, ob der Schutz der Bevölkerung es rechtfertigt, verfassungsrechtlich geschützte Rechte des Individuums einzuschränken. Wenn sich die Situation, die wir derzeit haben, wieder zuspitzt, die Inzidenz deutlich steigt und damit auch die Einweisungen in Krankenhäuser und die Auslastung der Intensivstationen, muss der Staat, wie in den vergangenen Monaten häufiger, Maßnahmen ergreifen, die unter anderem auch Freiheitsrechte einschränken. Im Extremfall kann das bis zu einer Impfpflicht gehen. Ich halte das für verfassungsrechtlich denkbar. Allerdings muss vorher alles andere ausprobiert werden. Denn wenn der Staat in verfassungsrechtlich geschützte Rechte eingreift, muss er stets die mildesten Mittel wählen, die in der speziellen Situation möglich sind.

Dann müsste man es doch zuerst mal wieder mit Kontaktbeschränkungen bis hin zu einem Lockdown versuchen, oder? Oder wäre eine Impfpflicht in diesem Fall das "mildeste Mittel"?

Nein, aber ein weiterer Lockdown wäre für die Wirtschaft und auch für die Menschen im Land nicht mehr verkraftbar. Es wird auf jeden Fall das Ziel der Politik sein, einen weiteren Lockdown zu vermeiden - zumal das diesmal zu erheblichen Spannungen in der Gesellschaft führen könnte, bis hin zu Schuldzuweisungen an Nicht-Geimpfte. Zudem hat sich gezeigt, dass auch die Freiheitseinschränkungen zu schweren medizinischen Problemen wie etwa Depressionen geführt haben.

Was sollte man also Ihrer Ansicht nach tun?

Ich finde, wir sollten anfangen, über innovative Lösungen nachzudenken. Klar, wir sollten auch noch mehr informieren, uns aber darüber hinaus auch die Frage stellen: Wie können wir Menschen zum Impfen bewegen? Einerseits, indem wir Anreize vergeben an Menschen, die sich impfen lassen, zum Beispiel Gutscheine für Serviceleistungen, Restaurantbesuche oder Ähnliches. Andererseits, indem wir sagen: Nicht-Geimpfte, die ja ein hohes Risiko für andere Menschen darstellen können, dürfen in bestimmte Bereiche des öffentlichen Raumes nicht mehr gehen, zum Beispiel in Kinos oder in Innenräume von Restaurants. Andere Länder machen uns das bereits vor oder haben es vor, zum Beispiel Griechenland oder Frankreich. Was natürlich rechtlich ausgeschlossen ist: den Zugang zur Grundversorgung wie Supermärkten oder Apotheken zu beschränken.

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Bislang versucht man hierzulande, das durch die Testangebote zu regeln und Geimpfte, Genesene und Getestete gleich zu behandeln. Nun sagen Kritiker dieses Vorgehens, dass Tests 24 Stunden im Voraus bei den ansteckenderen Virusvarianten womöglich nicht mehr so aussagekräftig sind.

Ja, außerdem finde ich es richtig zu sagen: Wenn jemand sich nicht impfen lassen möchte, okay - dann muss er oder sie aber auch die Konsequenzen tragen und Einschränkungen der Freiheitsrechte hinnehmen, die Geimpfte nicht mehr hinnehmen müssen. Das ist auch keine mittelbare Impfpflicht oder eine Impfpflicht durch die Hintertür. Es ist einfach extrem wichtig, dass wir die sogenannte Herdenimmunität erreichen. Dazu müssten sich in der Gesamtbevölkerung mehr als 80 Prozent impfen lassen; die Kinder sind da noch gar nicht herausgerechnet. Sicher: Die Impfstoffe von Biontech und Moderna lassen sich offenbar recht schnell auf andere Varianten anpassen. Solange sich das Virus aber in einer nicht-immunen Population ausbreiten und weiter mutieren kann, ist nicht ausgeschlossen, dass es Varianten entwickelt, die noch ansteckender und noch tödlicher sind als die bereits vorhandenen.

Wie sieht es denn hierzulande mit einer Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen aus? In Frankreich gibt es die bereits - und auch heftige Proteste dagegen.

Ich halte zumindest die Diskussion darüber für sehr berechtigt. Es geht da ja vor allem um Berufe, bei denen eine sehr große Nähe zu anderen Menschen besteht, also um medizinisches Personal, Beschäftigte in Alten- und Pflegeheimen, Lehrkräfte und so weiter. Hier würden ja auch Gruppen geschützt, die Kinder nämlich, von denen viele noch nicht geimpft sind beziehungsweise gar nicht geimpft werden können.

Ziemlich konkret ist mittlerweile auch die Überlegung, Tests für Nicht-Geimpfte nicht mehr kostenlos anzubieten. Wer es sich nicht leisten kann, jede Woche mehrmals zehn, zwölf oder mehr Euro für Schnelltests auszugeben, könnte dann nur noch eingeschränkt am sozialen Leben teilnehmen. Ist das eine Freiheitseinschränkung, die mit dem Grundgesetz vereinbar ist?

Ich finde, das ist die Konsequenz, die diejenigen tragen müssen, die sich nicht impfen lassen wollen. Denn es ist auch eine legitime Frage, warum die Sozialgemeinschaft für diese Tests aufkommen sollte. Wer denkt: Ich muss mich nicht impfen lassen, denn es gibt keine Notwendigkeit dafür, der irrt. Es ist jetzt notwendig zu reagieren, um die vierte Welle so klein wie möglich zu halten.

Wenn wir über eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen sprechen, fällt vielen sofort die vorgeschriebene Masernimpfung für Kita- und Schulkinder sowie das Personal in diesen Einrichtungen ein. Warum hat es da funktioniert?

Auch da gab es anfangs großen Widerstand. Allerdings waren das Wissen um die Ansteckungsgefahr und die Gefährlichkeit der Krankheit sowie das Vertrauen in den Impfstoff größer, weil er schon sehr lange im Markt ist. Nun muss man aber sagen: Auch wenn die Impfstoffe selbst neu sind - an mRNA-Impfstoffen wird auch schon seit mehr als zehn Jahren geforscht. Wenn wir jetzt nicht in Richtung Herdenimmunität steuern, könnte die Situation jetzt im Herbst - und ich beziehe mich da auf Modellrechnungen - noch deutlicher schlimmer werden als im Herbst 2020.

Über den Experten: Professor Alexander Ehlers ist Fachanwalt für Medizinrecht und Facharzt für Allgemeinmedizin. Er ist seit 1987 Senior Partner der Ehlers, Ehlers & Partner Rechtsanwaltsgesellschaft und war bis 1999 außerdem in seiner eigenen Arztpraxis tätig. Ehlers ist Mitglied in medizinischen Fachgesellschaften und Mitglied von Aufsichtsräten und Beiräten pharmazeutischer und anderer Unternehmen im Gesundheitswesen. Er ist Direktor des Healthcare Management Instituts an der EBS Universität, berät verschiedene Verbände und Institutionen und ist Sprecher des Beirats Gesundheit des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft (BVMW).
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