Die gemeldeten Corona-Neuinfektionen steigen in Deutschland, das Virus bestimmt immer noch unseren Alltag. Einige Wissenschaftler halten eine Herdenimmunität für das beste Mittel zur Eindämmung der Pandemie. Diese Strategie gilt aber wirtschaftlich und ethisch als problematisch. Wir haben bei einer Expertin nachgefragt, ob eine natürliche Durchseuchung der Bevölkerung sinnvoll wäre.

Alle aktuellen Informationen rund um die Corona-Pandemie in unserem Live-Blog.

Die sogenannte Great-Barrington-Erklärung von drei Wissenschaftlern aus den USA und Großbritannien wird aktuell in den Medien kontrovers diskutiert. Darin äußern die forschenden Epidemiologen Bedenken an den aktuellen Corona-Maßnahmen und warnen vor den Folgen von Lockdowns, gleichzeitig halten sie eine natürliche Durchseuchung großer Bevölkerungsteile mit dem Ziel der Herdenimmunität für die beste Methode der Pandemiebekämpfung.

Das versteht man unter Herdenimmunität

"Herdenimmunität kann erreicht werden, wenn ein Teil der Bevölkerung gegen eine Infektion immun ist. Der nicht-immune Teil der Bevölkerung ist dadurch indirekt geschützt und kann sich nicht mehr infizieren. Wie groß dieser Teil sein muss, hängt von der Infektiosität des Erregers ab. Bei Masern wären das zum Beispiel 95 Prozent der Bevölkerung, bei Polio 80 Prozent", erklärt Eva Grill, Epidemiologin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Ein ausreichender Teil der Bevölkerung müsse also immun gegen das Virus sein, damit es nicht mehr weiter verbreitet werden kann. Erreichen kann man eine Herdenimmunität zum Beispiel mit einem gezielten Impfstoff.

"Wenn ich einen ausreichend großen Teil der Bevölkerung impfe, schütze ich damit nicht nur das geimpfte Individuum, sondern auch diejenigen, die nicht geimpft werden können, also zum Beispiel sehr junge Säuglinge oder Menschen mit Immunschwäche, oder Menschen, die eine Impfung aus anderen Gründen nicht vertragen. Mit dieser Strategie ist es gelungen, die Pocken auszurotten. Auch Polio konnte damit in weiten Teilen der Welt zurückgedrängt werden", sagt die Expertin.

Herdenimmunität durch natürliche Ansteckung

Als weitere Möglichkeit, Herdenimmunität zu erreichen gelten natürliche Ansteckungen, wie es die Great-Barrington-Erklärung empfiehlt. Über dieses Vorgehen wurde bereits im Frühjahr zu Beginn der Pandemie in Deutschland gesprochen. Zum damaligen Zeitpunkt war aber noch nicht absehbar, wie gefährlich das Coronavirus ist. Aktuell stößt der Vorschlag an vielen Stellen auf Ablehnung, Experten weltweit warnen vor dessen Umsetzung.

Wie sich die Herdenimmunität-Befürworter das Szenario vorstellen: Nach der Great-Barrington-Erklärung sollen Menschen, die ein geringes Sterberisiko haben, unter Einhaltung einfacher Hygienemaßnahmen zurück in ihren Alltag kehren und so durch natürliche Ansteckung eine Immunität gegen das Virus aufbauen. Geschäfte und Restaurants wären geöffnet, auch Schulen und Universitäten können besucht werden, Kunst, Musik, Sport und andere kulturelle Aktivitäten könnten wieder aufgenommen werden. Risikogruppen, also ältere Personen oder Menschen mit Vorerkrankungen müssten bis zum Erreichen des Schwellenwertes für die Herdenimmunität besonders geschützt oder sogar isoliert werden.

Ernste Bedenken an der Herdenimmunität-Strategie

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt davor, eine Herdenimmunität erreichen zu wollen, solange es keinen Impfstoff gibt. Auch die Gesellschaft für Virologie rät in einer Stellungnahme davon ab und schließt sich der "John Snow Memorandum"-Erklärung im Fachblatt "The Lancet" an, welche die Idee der Great-Barrington-Erklärung ebenfalls zurückweist.

"Eine unkontrollierte Verbreitung von SARS-CoV-2, zum Beispiel in der jüngeren Bevölkerung, ließe sich nicht auf einen Bevölkerungsteil begrenzen und würde zu einem erheblichen Anteil von schwer Erkrankten und von Todesfällen führen", sagt auch Grill.

Denn auch Personen mit Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck, chronischen Erkrankungen oder einer bestehenden Schwangerschaft haben ein erhöhtes Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf. Viele Betroffene wissen zudem nicht, dass sie zur Risikogruppe gehören, da mögliche Risikofaktoren bei ihnen unerkannt sind.

Auch das Gesundheitswesen und die Wirtschaft könnten auf diese Weise schnell an ihre Grenzen geraten.

Stabile Immunität ist nicht garantiert

Nach aktuellem wissenschaftlichen Stand ist zudem unklar, wie lange eine aufgebaute Immunität überhaupt anhält, denn Zweitinfektionen sind bereits nachweislich aufgetreten. Gerade wenig-symptomatische Corona-Verläufe, wie sie bei jüngeren Menschen häufig auftreten, verleihen keine stabile Immunität. Auch Spätfolgen einer Corona-Infektion können nicht ausgeschlossen werden.

"Schließlich ist die Komplikation einer überstandenen COVID-19-Erkrankung, das sogenannte Long-COVID-Syndrom, gar nicht so selten. Das sind verschiedene Spätschäden an Atemwegen, Gefäßen, dem Nervensystem oder anderen Organen, welche Lebensqualität, Arbeitsfähigkeit und vermutlich auch Lebenserwartung einschränken. Wenn man Herdenimmunität anstrebt, ist nur die Impfung ein gangbarer und ethisch, medizinisch und gesellschaftlich vertretbarer Weg", sagt die Expertin.

Über die Expertin: Professorin Dr. Eva Grill ist Epidemiologin am Institut für medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie (IBE) der Ludwig-Maximilians-Universität in München und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie. Die Epidemiologie beschäftigt sich mit Risikofaktoren, Häufigkeit, Verteilung, Ursachen und Folgen von Erkrankungen in der Bevölkerung, ihr Ziel ist es die Gesundheit in der Bevölkerung zu erhalten und weiter zu verbessern.

Verwendete Quellen:

  • Great Barrington Erklärung
  • Gesellschaft für Virologie e.V.: Stellungnahme der Gesellschaft für Virologie zu einem wissenschaftlich begründeten Vorgehen gegen die COVID-19-Pandemie
  • John Snow Memorandum
  • World Health Organization: WHO Director-General's opening remarks at the media briefing on COVID-19 - 12 October 2020
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.