- Der Bonner Virologe Hendrik Streeck zählt zu den führenden Corona-Experten im Land.
- Lange kritisierte er die Politik für zu strenge Maßnahmen zur Eindämmung des Virus, aufgrund der aktuellen Entwicklung sieht er aber keinen anderen Weg.
- Im Interview mit unserer Redaktion erklärt Streeck, warum er trotzdem optimistisch auf den Sommer schaut und man in Pandemien nicht nur auf Virologen hören sollte.
Herr
Hendrik Streeck: Für jeden Virologen war das wahrscheinlich eines der spannendsten Jahre der vergangenen Jahrzehnte. Spannend deshalb, weil bei so einem neuen Virus, mit so einer akuten Bedrohung, verschiedenste Experten zusammenkommen und versuchen Lösungen zu finden. Auch wenn ich aus der HIV-Forschung komme, wo man es gewohnt ist, in einer Pandemie zu forschen, war und ist diese drängende Aktualität einer weltweiten Pandemie schon sehr interessant.
Was haben Sie im Laufe der Pandemie dazugelernt?
Das betrifft zum einen natürlich das Virus selbst: Wenn man in die großen Virologie-Bücher schaut, spielen da Coronaviren natürlich eine Rolle. Aber das Wissen, das wir uns mittlerweile angeeignet haben, ist so groß, dass alle Bücher überarbeitet werden müssen. Zum anderen habe ich in etlichen Bereichen abseits des Virus enorm viel gelernt. Dazu gehört der Umgang mit Medien und die Kommunikation in der Pandemie. Und ich habe mitbekommen, wie Politik funktioniert. Ich hatte ein sehr naives Bild davon, wie politische Entscheidungen getroffen werden.
"Wenn das Leben nur von Virologen bestimmt wird, dann wäre es ziemlich langweilig."
Ist es für einen Forscher eher hinderlich, wenn sich plötzlich so viele Menschen und insbesondere auch die Politik für Ihre Arbeit interessieren?
Ja und nein. Der HIV-Bereich ist da schon immer eine Ausnahme gewesen. Dort versuchen wir ebenso wie in der Coronakrise, ein Leben in der Pandemie zu ermöglichen, was uns auch gelungen ist. Und dort arbeiten Virologen eng mit Soziologen, Psychologen sowie Experten aus vielen anderen Bereichen zusammen. Ein solches interdisziplinäres Netzwerk, ein fachübergreifendes Vorgehen fehlt mir immer noch in der Corona-Pandemie. Wenn das Leben nur von Virologen bestimmt wird, dann wäre es ziemlich langweilig. Dann hätten wir keinen Sex, würden uns nicht küssen und nicht auf Partys gehen.
Was schwebt Ihnen vor?
Deutschland braucht einen Pandemie-Rat, ein Gremium, in dem Experten aus vielen verschiedenen Fachbereichen zusammenkommen. Jeder hat Expertise in seinem Fachbereich, aber wir können die Pandemie nur gemeinsam meistern.
Warum glauben Sie, ist die Bundesregierung nicht auf verschiedene Forschungsinstitute zugegangen und hat alle an einen Tisch geholt?
Das kann ich nicht beantworten. Armin Laschet hat das ja gemacht. In seinem zwölfköpfigen Expertenrat bin ich der einzige Virologe neben Wirtschaftswissenschaftlern, Soziologen und Psychologen. Ich lerne da enorm viel, zum Beispiel von der Ethikerin Christiane Woopen, die einen ganz anderen Blickwinkel hat als ich. Genau so etwas hätte ich mir in Deutschland gewünscht.
Neben mehr Interdisziplinarität plädieren Sie schon lange dafür, nicht von einem Lockdown in den nächsten zu gehen, sondern eine Langfriststrategie zum Schutz vor Neuinfektionen zu entwickeln. Nun gehen wir in den dritten Monat des Lockdowns. Wie bewerten Sie die gegenwärtigen Maßnahmen in Deutschland?
Fakt ist: Jede Maßnahme, die die Infektionsketten unterbricht, ist erstmal sinnvoll. Jede Infektion ist eine zu viel. Deshalb kann man sagen, dass das natürlich ein guter Weg ist. Mich betrübt aber, dass wir nicht endlich anfangen, Strukturen zu schaffen. Strukturen, die zum einen die Risikogruppen schützen und zum anderen langfristig gedacht sind. Der Corona-Impfstoff ist laborartig in der Gesellschaft getestet worden. Wir wussten deshalb, dass er funktioniert. Ähnlich hätte man bereits im Sommer Hygienekonzepte testen können. Hätten wir das damals gewagt, dann hätten wir jetzt einen ganz anderen Umgang mit der Pandemie und würden wissen, ob es Sinn ergibt, bestimmte Bereiche zu schließen oder nicht. Da wir das nicht gemacht haben, sind wir nun an einem Punkt angelangt, wo wir nur noch mit dem Hammer draufhauen können.
"Im März, spätestens April gehen die Infektionszahlen nach unten"
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach erklärte kürzlich in einem SZ-Interview ungewohnt optimistisch, dass es wegen der Impfstoffe ein "super Sommer" werde ...
Ich teile den Optimismus. Wie bei allen anderen Coronaviren auch – und wie wir das im vergangenen Frühjahr gesehen haben – gehen im März, spätestens April die Infektionszahlen nach unten. Das ist das typische Verhalten von Coronaviren, die sich über die Sommermonate hinweg nur noch auf einem niedrigen Level verbreiten. Ich gehe davon aus, dass wir nur noch wenige Fälle haben werden.
Das bedeutet aber nicht das Ende der Pandemie, oder?
Nein. Wir müssen den kommenden Sommer besser nutzen. Wir dürfen nicht wieder in die Situation kommen, dass eine neue Welle losgeht. Coronaviren bewegen sich in Dauerwellen, die Infektionen gehen jedes Jahr zu ähnlichen Zeitpunkten hoch und wieder runter. Wenn wir weitreichend impfen, uns gut vorbereiten und endlich Strukturen schaffen, dann können wir einen harschen Corona-Winter vermeiden.
Das heißt aber im Umkehrschluss auch, dass wir uns noch bis zum Frühjahr mit den jetzigen Maßnahmen, dem Lockdown und den Kontaktbeschränkungen anfreunden müssen ...
Die Frage muss die Politik beantworten. Wir wussten aber bereits im Herbst, dass uns eine lange und schwere Zeit bevorsteht, was an den Zutaten für die Pandemie liegt: Virus, Saisonalität, Maßnahmenmüdigkeit und Ahnungslosigkeit. Wir wissen bei über 80 Prozent der Fälle immer noch nicht, wo sich die Menschen infiziert haben. Weil es nach wie vor so ein großes Unwissen über die Pandemie gibt, kommt die Politik gar nicht drumherum, harte Entscheidungen zu treffen, um das Infektionsgeschehen zu kontrollieren.
"Wir müssen anfangen, mit dem Virus zu leben"
Warum verstehen wir das Infektionsgeschehen noch immer so schlecht?
Diese Forschung kann kein Institut, kein Labor alleine machen. Ich könnte zwar selbst losziehen und versuchen herauszufinden, wo sich einzelne Leute infiziert haben. Aber das würde kein repräsentatives Bild ergeben.
Das klingt nicht sehr optimistisch.
Wir müssen einfach weiter forschen – und anfangen, mit dem Virus zu leben. Das ist keine Floskel! Und wenn wir akzeptiert haben, dass das Virus bleibt, dann müssen wir uns die zentrale Frage stellen: Wie viele Infektionen kann unser Gesundheitssystem verkraften?
Die Antwort wäre?
Wir haben keine. Es gibt keine Zahl, wonach klar ist, wie viele Infektionen zu viel sind. Im Moment richten wir uns nach der sehr schwammigen Zahl der Neuinfektionen. Wir alle wissen, dass die nicht der Realität entspricht. Mich überrascht, dass wir bei 30.000 intensivmedizinischen Betten mit 3.000 COVID-19-Patienten an Maximalgrenzen stoßen. Wie bei Banken braucht es künftig regelmäßige Stresstests, um zu wissen, was unser Gesundheitssystem wirklich leisten kann.
Gibt es Länder, die es besser machen?
Es gibt kein Land, das es super macht. Jedes Land hat Probleme. Leider hängt sehr viel von der Saisonalität und vom Wetter ab. Wir können erst in ein paar Monaten, wenn nicht sogar erst Jahren, sagen, welches Land am besten durch die Pandemie gekommen ist. Der harte Lockdown in Ländern wie Frankreich, Italien oder Spanien hat genauso wenig funktioniert wie der eher lockere Weg Schwedens. So einfach, wie das immer dargestellt wird, ist es leider nicht.
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