- Im Netz wird behauptet, Deutschland könne derzeit nur deshalb Richtung Normalität zurückkehren, weil das Robert-Koch-Institut keine Corona-Nachmeldungen mehr erfasse.
- Nur so habe die 7-Tage-Inzidenz "schlagartig" sinken können.
- Diese Behauptung einer Twitter-Nutzerin führt nach Recherchen von CORRECTIV.Faktencheck in die Irre.
"Das RKI erfasst nun keine Nachmeldungen mehr, unsere Inzidenz ist quasi schlagartig auf fast 100 gesunken. Deutschland wird über Nacht coronafrei", schreibt eine Twitter-Nutzerin am 15. Mai und suggeriert so, die statistische Erfassung der Corona-Fallzahlen sei geändert worden. Dieser Eindruck entsteht offenbar auch bei anderen Twitter-Nutzern, wie aus mehreren Kommentaren unter dem Beitrag hervorgeht. Ein Nutzer schreibt zum Beispiel: "Schönrechnen bis zur #BTW, die Gewinner dürfen aufräumen. Es ist so schäbig."
Doch der Tweet führt in die Irre, wie CORRECTIV.Faktencheck recherchierte. Richtig ist: Das RKI erfasst weiterhin Nachmeldungen, die werden allerdings nicht für die Regelungen der "Bundesnotbremse" berücksichtigt. Auch sind die Inzidenzwerte in Deutschland nicht "schlagartig" gesunken, sondern sinken seit Wochen kontinuierlich.
Die beim RKI ausgewiesenen Corona-Fallzahlen basieren auf den Fällen, die den Gesundheitsämtern gemeldet wurden. Das heißt, es zählt das Datum, "an dem das lokale Gesundheitsamt Kenntnis über den Fall erlangt und ihn elektronisch erfasst hat", wie das RKI auf seiner Covid-19-Dashboard-Seite erläutert.
Es gibt einen Meldeverzug, weshalb sich die 7-Tage-Inzidenz nachträglich erhöhen kann
Dabei kommt es zu einem Melde- beziehungsweise Übermittlungsverzug. Denn zwischen der Meldung durch Ärztinnen und Ärzte und Labore an das Gesundheitsamt und der Übermittlung dieser Fälle an die zuständigen Landesbehörden und das RKI können einige Tage vergehen. Das bedeutet für die Inzidenzen: Die RKI-Daten der letzten Tage können unvollständig sein, die 7-Tage-Inzidenz kann sich nachträglich erhöhen.
Die 7-Tage-Inzidenz bildet die neu gemeldeten Corona-Fälle pro 100.000 Einwohner in den vergangen sieben Tagen ab und wird vom RKI berechnet. Grundlage dafür ist das Datum, an dem ein Gesundheitsamt einen Fall elektronisch erfasst: das sogenannte Meldedatum.
Die 7-Tage-Inzidenz ist die Grundlage für das In- oder Außerkrafttreten der "Notbremse". Neu ist, dass hierfür laut RKI nicht die Inzidenz auf Basis des Meldedatums, sondern auf Basis des "Berichtsdatums" herangezogen wird – der Tag, an dem die Fälle an das RKI übermittelt wurden. Hinzu kommt: Durch den Übermittlungsverzug könne es zu einer Unterschätzung der Inzidenz kommen, schreibt eine RKI-Sprecherin in einer E-Mail an CORRECTIV.Faktencheck. Die nachträglich korrigierten Werte werden vom RKI zwar in einer separaten Excel-Tabelle erfasst, aber nicht für die Bundesnotbremse berücksichtigt. Die Inzidenzwerte werden am Berichtstag "eingefroren".
Hinter diesem Einfrieren der Werte stecke eine "politische Entscheidung", heißt es von Seiten des RKI. Man wolle sicherstellen, dass die Werte keinen Schwankungen unterliegen und sich die Betroffenen darauf einstellen könnten, wann die Regelungen rund um die Bundesnotbremse in- oder außer Kraft treten.
An der Berechnung und statistischen Erfassung der Coronafälle und Inzidenzen hat sich nichts geändert
In dem Tweet suggeriert die Nutzerin, es habe sich etwas am Verfahren der Nachmeldungen geändert. Ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums verneint das in einer E-Mail an CORRECTIV.Faktencheck und sagt, es habe sich nichts verändert.
Die "eingefrorenen" Inzidenzwerte gibt es theoretisch schon seit Pandemie-Beginn. Aber eine wirkliche Bedeutung haben sie erst seit Inkrafttreten der Bundesnotbremse im April, schreibt die RKI-Sprecherin. An der Art und Weise, wie die Inzidenzwerte erfasst und berechnet werden, hat sich also nichts geändert. Deshalb ist es auch falsch zu behaupten, die Inzidenz sei "schlagartig" gesunken.
Was stattdessen stimmt: Die bundesweiten Corona-Fallzahlen und Inzidenzwerte sanken in den vergangenen Wochen kontinuierlich. Auch rund um den 23. April, als die Bundesnotbremse in Kraft trat, sanken die Inzidenzen auf Landesebene nicht "plötzlich". Das ist zum Beispiel im Lagebericht des RKI vom 20. Mai gut zu erkennen.
Die Twitter-Nutzerin hat ihren missverständlichen ersten Tweet später mit Kommentaren erläutert. So schreibt sie: Die Nachmeldungen seien "nicht maßgeblich für die Inzidenz bzw. die Notbremse", sondern "nur das was tagesaktuell für den jeweiligen Tag gemeldet wird". Somit hätten die Nachmeldungen keinen Einfluss auf die Entscheidungen mehr. Das stimmt.
Die Kritik, dass das "Einfrieren" der Werte die 7-Tage-Inzidenz verzerre, tauchte im Mai auch in Medienberichten auf. So könne es in einigen Kommunen und Landkreisen zu vorzeitigen Lockerungen kommen, wenn ein Inzidenzwert von unter 100 an fünf Tagen in Folge tatsächlich mit Berücksichtigung der Nachmeldungen noch gar nicht erreicht wäre.
Eine Ministeriumssprecherin aus Sachsen-Anhalt sagte beispielsweise laut Tagesschau, dass das RKI wiederholt gebeten worden sei, "in die Berechnung seiner 7-Tage-Inzidenz die sieben beendeten Vortage einfließen zu lassen und nicht den jeweils aktuellen Tag. Dadurch wären auch die eingefrorenen RKI-Inzidenzen näher am tatsächlichen Geschehen und aus fachlicher Sicht eine gute Basis für Maßnahmen der bundeseinheitlichen Notbremse."
Fazit: Der Tweet ist missverständlich. Das RKI erfasst weiterhin Nachmeldungen – die jedoch nicht für die Regelungen der Bundesnotbremse berücksichtigt werden, was in der Öffentlichkeit auf Kritik gestoßen ist. Aber an der statischen Erfassung und Berechnung der 7-Tage-Inzidenz hat sich grundsätzlich nichts geändert. Die 7-Tage-Inzidenz ist in den vergangenen Wochen kontinuierlich auf Bundes- und Landesebene gesunken.
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