Der Leipziger Rechtsanwalt Jürgen Kasek war am 7. November dabei, als Gegner der Corona-Maßnahmen in Leipzig demonstrierten. Im Interview berichtet das Leipziger Stadtratsmitglied der Grünen von seinen Eindrücken.
Die "Querdenker"-Demo Anfang November in Leipzig: Zu Zehntausenden missachteten die Teilnehmer die behördlichen Auflagen – sie trugen keinen Mundschutz, hielten nicht den vorgeschriebenen Abstand untereinander ein, verließen die vorgeschriebene Marschroute und beendeten die Veranstaltung nicht, als sie von der Polizei dazu aufgefordert wurden.
Aber wie konnte die Situation überhaupt so eskalieren? Der Leipziger Rechtsanwalt Jürgen Kasek war selbst vor Ort und schildert seine Eindrücke.
Herr Kasek, zunächst eine persönliche Frage: Was halten Sie selbst von den angeordneten Maßnahmen, um die schnelle Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern?
Jürgen Kasek: Auch wenn ich nicht bezweifle, dass wir eine Pandemie haben, heißt das nicht, dass ich alle Maßnahmen richtig finde. Trotzdem sage ich: Maske tragen und Abstand halten tut nicht weh, man sollte es schon aus Rücksichtnahme tun.
Woran hapert es Ihrer Ansicht nach bei den Infektionsschutzgesetzen?
Meine Grundkritik ist, dass das Bundesinfektionsgesetz von Maßnahmen gegen Infizierte spricht – dass sich aber viele Maßnahmen gegen alle Menschen richten. Dafür fehlt meines Erachtens eine ausdrückliche Bestätigung durch Gesetze.
Dazu kommt, dass die Gesetze in den Bundesländern teilweise sehr unterschiedlich sind. Unsere "Kleinstaaterei" macht da Probleme.
Das ist der Föderalismus, und der ist auch ein Stützpfeiler unserer Demokratie ...
Selbstverständlich, daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Aber er verstärkt in diesem Fall das Problem, dass die Menschen abstrakte Bestimmungen und ihre Widersprüchlichkeiten oft nicht verstehen.
Der sächsische Innenminister Roland Wöller hat dem entgegengehalten, die Behörden würden "mit Augenmaß" agieren. Kann man sich darauf verlassen?
"Augenmaß" ist die Übersetzung davon, dass vieles in den Gesetzen Auslegungssache ist und deshalb immer die Interpretation gewählt werden sollte, die die Grundrechte am wenigsten einschränkt und trotzdem das Gesetzesziel im Auge behält.
Unsere Gesetze sind immer abstrakt und müssen immer an die Gegebenheiten angepasst werden – das ist ein dynamischer Prozess, in dessen Verlauf sich Gesetze auch wandeln können.
Sie sprechen davon, dass viele Verordnungen nicht durch entsprechende Gesetze unterlegt sind. Halten Sie den Vorwurf vieler Maßnahmen-Kritiker für berechtigt, dass derzeit die Legislative ausgeschaltet wird?
Dieses Problem sehe ich tatsächlich. Am Anfang sind viele Einschränkungen nicht mal als Rechtsverordnung erlassen worden – das war eine Aushebelung des rechtlichen Weges.
Wir sind ein demokratischer Rechtsstaat und in einem solchen muss zu jedem Zeitpunkt klar sein, dass die Legislative – also der Gesetzgeber, und das sind die Parlamente der Länder und der Bundestag – die politische Kontrolle hat. Da ist man meiner Ansicht nach teilweise viel zu schnell vorgegangen und das sorgt bei den Bürgern für Verstörung.
Angesichts der Pandemie ist Gefahr im Verzug. Wie könnte der Gesetzgeber rechtsstaatlicher vorgehen und gleichzeitig schnell reagieren?
Die Situation ist zweifelsohne schwierig. Wir stehen einer Pandemie gegenüber, die nach wie vor wissenschaftlich wenig erforscht ist und große Gefahren birgt. Aber in Krisenzeiten schlägt oft die Stunde der Extreme.
Ich dagegen meine, dass jetzt statt Panik Verhältnismäßigkeit hergestellt werden muss, ich wünsche mir Gesprächsbereitschaft und dass die Gesellschaft an den Entscheidungsprozessen ausreichend beteiligt wird.
Mittlerweile werden manche Maßnahmen von Gerichten zurückgenommen oder eingegrenzt, und das finde ich komplett okay. Es zeigt – im Gegensatz zur Meinung der "Querdenker" – dass der Rechtsstaat funktioniert.
Zu der in Ihrer Stadt aus den Fugen geratenen Demonstration: Was ist schiefgelaufen in Leipzig?
Da ist ganz vieles schiefgelaufen. Es geht damit los, dass das Oberverwaltungsgericht von 16.000 Teilnehmern ausgegangen ist, obwohl die Stadt mit bis zu 50.000 gerechnet hat – die Uni Leipzig hat dann am Ende 45.000 Demonstranten gezählt.
Schon vor Beginn der Demonstration war deshalb der offiziell genehmigte Veranstaltungsbereich zu klein. In dieser Situation hat man den Teilnehmern erlaubt, den Veranstaltungsort zu wechseln, obwohl die "Querdenker" von Anfang an klargemacht hatten, dass sie sich nicht an die Auflagen halten wollen.
So ist es dann auch gekommen. Trotzdem war die Polizei auf diese Entwicklung überhaupt nicht vorbereitet und mit viel zu wenigen Einsatzkräften vor Ort.
Trotz der angeblich so vielen Hooligans und Rechtsextremen?
Ja! Von denen waren mehrere Hundert anwesend, und sie haben die Demonstration quasi "übernommen". Die Polizei hatte keine Chance und musste den Weg freigeben.
Man muss sich aber mal vorstellen, dass in dieser eskalierenden Situation die Stadt Leipzig keinen Einblick in das Einsatzkonzept der Polizei hatte. Es gab keinerlei Absprachen, und als die Stadt wissen wollte, was vor sich geht, musste man im Lagezentrum der Polizei anrufen und warten, bis die vor Ort jemanden gefunden hatten, der Auskunft gab. Diese viel zu lange Kommunikationswege sind unfassbar!
Wie hat der Freistaat reagiert?
Innenminister Roland Wöller hat am Sonntag, am Tag nach den Ereignissen, ein Statement vorgelesen, in dem er weder zur Anwesenheit der Neonazis noch zu den Angriffen auf Journalisten etwas gesagt hat. Zwei Tage nach der Demo wusste er angeblich immer noch nicht, was für Leute das waren und zu welchem Lager die gehörten.
Hätte man Ihrer aus Ihrer Sicht die Demonstration unter diesen Bedingungen gar nicht genehmigen sollen?
Das Versammlungsgrundrecht ist ein hohes Gut. Auch in Zeiten wie diesen muss es die Möglichkeit zu Demonstrationen geben – angepasst an die Gegebenheiten.
Ein Verbot hätte ich deshalb für falsch gehalten. Aber spätestens, nachdem klar war, dass die Teilnehmer sich in der Mehrzahl nicht an die Auflagen hielten, hätte zeitnah die Auflösung erfolgen müssen. Das hat deutlich zu lange gedauert.
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