- "Killerkeime" sind Vibrionen nicht.
- Dennoch können sie manchen Menschen sehr gefährlich werden.
- Wir haben Experten zu Fakten, Zahlen und Gerüchten befragt.
Auch diesen Sommer wärmte sich die Ostsee an manchen Küsten wieder auf über 20 Grad auf. Bei Urlaubern kommt da Mittelmeerstimmung auf. Doch nicht nur sie mögen warmes Wasser. Auch Vibrionen.
1. Was sind Vibrionen?
"Vibrionen gehören zur natürlichen Bakterienflora der Ostsee", erklärt Ulrich Bathmann, bis zu seinem Ruhestand im Frühjahr 2022 Direktor des Leibniz-Instituts für Ostseeforschung Warnemünde. Sie sind im oder am Wasser zu finden, kommaförmig und vertragen nicht viel Salz – maximal um die 2,5 Prozent. Ihr Name leitet sich ab vom lateinischen "vibrare" für "zittern, zucken" – aufgrund ihrer hohen Beweglichkeit unter dem Mikroskop.
Von insgesamt rund 130 Arten gelten etwa ein Dutzend als humanpathogen. Berühmt-berüchtigt, aber in unseren Breiten kaum mehr vorhanden, ist Vibrio cholerae O1/O139, der Auslöser der epidemischen Cholera. Vier potenziell gesundheitsschädliche nicht-Cholera-Vibrionen kommen in der Ostsee und nahen Brackwasser-Gewässern wie der Schlei oder der Kieler Förde vor: Vibrio vulnificus, Vibrio parahaemolyticus, Vibrio alginolyticus, Vibrio cholerae non-O1/non-O139.
2. Wie treffen sie auf Menschen?
"Die meiste Zeit des Jahres bleiben sie unauffällig", sagt Ulrich Bathmann. "Steigt die Wassertemperatur allerdings mehrere Tage über 20 Grad, vermehren sie sich rasant und bleiben auch noch für mehrere Wochen aktiv, selbst wenn das Wasser abkühlt." Die Strömung treibt die Bakterien durchs Meer, dabei setzen sich wachsende Vibrionen-Populationen gern auf Holzpartikel und Mikroplastikteile, die frisch im Wasser gelandet und noch nicht von anderen Mikroorganismen bewachsen sind.
Zwei vermeintlich separate, von Menschen verursachte Umweltprobleme gehen in diesem Fall eine sehr ungünstige Reisegemeinschaft ein. Denn baden Mensch und Bakterium in den gleichen Wellen, können die mikroskopisch kleinen Bakterien über Wunden in den Körper eindringen.
3. Für wen sind Vibrionen gefährlich, für wen nicht?
Schon Ekzeme, kleine Hautrisse oder frisch gestochene Tattoos reichen Vibrionen als Eingangstor in den menschlichen Körper. "Das kann beim Schwimmen oder Planschen passieren oder beim Barfuß-Waten, etwa wenn man auf eine Muschel tritt und sich schneidet", erklärt Axel Kramer, Leiter des Greifswalder Instituts für Hygiene- und Umweltmedizin. Größere Wunden erhöhen das Risiko einer Infektion.
Bei Menschen mit fittem Immunsystem kann sich eine von Vibrionen befallene Wunde entzünden, röten, vielleicht sogar eitern oder anschwellen. Bei Kindern und Jugendlichen lösen die Bakterien manchmal auch eine Mittelohrentzündung aus. Doch wer gesund ist, steckt die Attacke meist locker weg.
Nicht so Menschen mit weniger fittem Immunsystem oder Vorerkrankungen wie Diabetes mellitus oder Lebererkrankungen. Bei ihnen pocht meist wenige Stunden nach der Infektion ein lokaler Entzündungsschmerz auf, der angesichts der sichtbaren Wunde übertrieben stark erscheint. Der Körper reagiert mit Fieber, Schüttelfrost, Durchfall, zum Teil bildet sich ein Hautausschlag mit Pusteln und Bläschen. Wird die Infektion nicht schnellstmöglich mit starken Antibiotika behandelt, kann sich die Entzündung innerhalb weniger Stunden im gesamten Körper ausbreiten.
"Deshalb müssen Chirurgen schon im Anfangsstadium der Entzündung ziemlich drastisch hergehen und relativ viel Gewebe um die betroffene Stelle entfernen", erklärt Axel Kramer. "Andernfalls können sich eitrige Abszesse bilden, auch dramatische Nekrosen. Manchmal hilft nur eine Amputation." Im schlimmsten Fall droht eine lebensgefährliche Sepsis, sprich: Das körpereigene Abwehrsystem schießt über, schädigt die eigenen Organe und/oder löst einen Kreislaufkollaps aus. Eine Sepsis kann tödlich enden.
Kramer hat in der Uniklinik Greifswald alle Ärzte in der Notaufnahme und der Chirurgie dafür sensibilisiert, dass sie beim geringsten Verdacht an eine Vibrionen-Infektion denken sollen. "Das ist wichtig", betont der Umweltmediziner. "Der Krankheitsverlauf kann so dramatisch schnell vonstattengehen, dass die Patienten innerhalb von vierundzwanzig Stunden versterben. Mehr Informationen können da Leben retten."
Doch was ist mit den Urlaubern und Tagesgästen, die nach einem schönen Strandtag zurück nach Hause fahren? "Tauchen bei ihnen entsprechende Symptome auf, ahnen die wenigsten, dass diese mit ihrem Bad in der Ostsee zusammenhängen und weisen daher auch ihre Ärztinnen oder Ärzte nicht darauf hin", weiß Claudia Traidl-Hoffmann, Direktorin am Institut für Umweltmedizinerin Helmholtz Zentrum München. "Für die Kolleginnen und Kollegen jenseits der Küsten sind Vibrionen bislang ein rein theoretisches Thema. Um sie für die Zukunft besser zu wappnen, gehört das Thema Klimawandel und seine medizinischen Auswirkungen dringend in Uni-Lehrpläne und Fortbildungen."
4. Wie viele Menschen infizieren sich?
Vorneweg: Jährlich schwimmen, planschen und waten unzählige Menschen in der Ostsee, ohne dass irgendetwas passiert. Von "Killer-Keimen" oder gar "fleischfressenden" Bakterien zu sprechen, wie es einige Medien nach jeder bekannt gewordenen Infektion gerne tun, ist Panikmache. Doch auch zum Verharmlosen von Vibrionen besteht kein Anlass. Zumal klar ist, dass sie in Zukunft aufgrund der Klimaerhitzung noch mehr florieren werden.
Laut Robert Koch-Institut (RKI) traten 1994 in Deutschland die ersten zwei Fälle auf. Aus Schweden, Finnland, Dänemark, Norwegen, den Niederlanden, Polen und von den Kanal-Inseln sind aus dieser Zeit ebenfalls Erkrankungen bekannt. Die weitere Datenlage ist schwierig, denn bei Weitem nicht alle Vibrionen-Infektionen werden auch richtig diagnostiziert. Außerdem wurden sie lange Zeit nicht systematisch erfasst: Erst seit Anfang 2020 gilt bundesweit eine Meldepflicht gemäß Infektionsschutzgesetz. "Das wird allerhöchste Zeit", sagte 2021 Susan Dupke, Vibrionen-Expertin am RKI. "Wir haben da eine riesige Dunkelziffer und brauchen einen besseren Überblick."
Die Zahlen aus Ostseebädern, die von diversen Medien seit Jahren wiederholt werden, sind mit Vorsicht zu genießen – man will ja ungern Touristen verschrecken. 2021 veröffentlichte Thomas Brehm vom Hamburger Uniklinikum Eppendorf in einer Studie erstmals Daten der Bundesländer mit Ostseestrand. Er kommt allein für die heißen Sommer 2018 und 2019 auf 63 Erkrankte, betont aber: "Sicher wurden noch deutlich mehr Infektionen diagnostiziert, doch lediglich diese sind uns bekannt."
Brehm erfuhr außerdem von sechs Todesopfern. Alle litten unter Vorerkrankungen, waren aber fit genug, um schwimmen zu gehen. "Es können aber auch mehr Todesfälle gewesen sein. "Von zahlreichen Patientinnen und Patienten bekamen wir leider keinerlei klinischen Daten."
Im Jahr 2020 wurden dem Robert Koch-Institut insgesamt 13 Fälle gemeldet. Brehm vermutet, dass diese verhältnismäßig niedrige Zahl auf die Corona-Reisebeschränkungen zurückgeht. "Zudem ist unklar, ob wirklich alle Infektionen gemeldet wurden", so der Experte. Für das Jahr 2021 meldet das RKI 29 Infektionen durch Nicht-Cholera-Vibrionen (Quelle: Robert Koch-Institut: Infektionsepidemiologisches Jahrbuch für 2021, Berlin, 2022 (im Druck)).
Aus dem aktuellen Sommer sind aus Mecklenburg-Vorpommern laut dem aktuellen wöchentlichen Lagebericht derzeit acht Infektionen bekannt. Schleswig-Holstein hat keine Daten veröffentlicht.
5. Wird vor Vibrionen gewarnt?
Das hängt ab vom Bundesland. Die EU-Richtlinie 2006/7/EG zur Überwachung der Qualität von Badegewässern sieht keine mikrobiologische Überwachung von Vibrionen vor (nur von E.coli Bakterien und Intestinalen Enterokokken). Tatsächlich ist der Nachweis im Wasser vergleichsweise aufwändig, erklärt Matthias Labrenz, Vibrionen-Experte am Leibniz-Institut für Ostseeforschung: "Ähnlich wie beim Corona-Test weist man die Bakterien mit Verfahren wie der Polymerase-Ketten-Reaktion (PCR) nach, sucht also in einer Probe nach ihren molekularen Spuren. Nach etwa einem Tag erhält man gute Anhaltspunkte, doch keine genauen Angaben, um welche Vibrionen-Arten es sich handelt. Um diese zu identifizieren und zu quantifizieren, muss man die Fundstücke erst mal kultivieren. Bis zu einem Ergebnis dauert es insgesamt drei bis vier Tage." Schnelltests gibt es, anders als bei Corona, keine. Und auch keine Grenzwerte für gerade noch verträgliche Vibrionen-Mengen.
"Die machen auch wenig Sinn", sagt Gudrun Petzold, die im schleswig-holsteinischen Gesundheitsministerium für den "Umweltbezogenen Gesundheitsschutz" zuständig ist. "Ob ein Mensch erkrankt, hängt viel mehr von seinem Immunsystem ab als von der Zahl der Vibrionen im Wasser." In Schleswig-Holsteins Badeorten findet daher kein systematisches Testen statt. Im Internet bietet die Gesundheitsbehörde nur allgemein gehaltene Informationen über Vibrionen an.
Relevantere Ansprechpartner seien lokale Ärzte, damit die ihre Risikopatienten warnen, im Sommer besser nicht mit Wunden ins Wasser zu gehen, so Petzold. Und damit sie bei entsprechenden Symptomen wachsam sind. "Warum sollten wir mehr Panik machen?", fragt sie. "Die Ostsee ist ein natürliches Gewässer, und wer da badet, sollte sich bewusst sein, dass er oder sie darin nicht das einzige Lebewesen ist. Null Risiko gibt es in der Natur nun mal nicht."
Mecklenburg-Vorpommern fährt eine andere Strategie. "Im Sommer testen wir an sieben ausgewählten Badestellen mindestens alle vierzehn Tage auf Vibrionen, bei Verdacht auch öfter", versichert Anja Neutzling, Pressesprecherin des Landesamts für Gesundheit und Soziales Mecklenburg-Vorpommern. "Insofern ist es kein Wunder, dass unsere Küsten häufiger in den Medien auftauchen. Aber wir spielen lieber mit offenen Karten."
Der Vibrio Map Viewer des European Center for Disease Prevention and Control zeigt das tagesaktuelle Risiko an europäischen Küsten an – die Daten beruhen allerdings nicht auf lokale Messungen, sie sind anhand von Fernerkundungsdaten sowie tagesaktuelle Daten zu Wassertemperatur und Salzgehalt modelliert.
6. Können wir uns gegen Vibrionen schützen?
Zuerst ganz praktisch: Risikopersonen sollten mit Wunden nicht baden. Beim Kampf gegen Vibrionen liegt ansonsten klar auf der Hand: Klimaschutz ist Gesundheitsschutz. Denn am effektivsten hilft, das Meer kühl zu halten. "Heiße Sommer und warme Ostsee-Temperaturen verbessern die Wachstumsbedingungen für Vibrionen enorm", prognostiziert Matthias Labrenz. "Wir sollten da besser wachsam sein."
7. Gibt es weitere Forschungen?
"Die Ostsee hat eine schwierige Zukunft vor sich" – das hat auch die EU erkannt und ein großes Forschungsprogramm mit dem Titel "Biodiversität und Klimawandel" gestartet. Ein klein bisschen Hoffnung verspricht darin ein Projekt, das Matthias Labrenz 2020 mit Kolleginnen und Kollegen anderer Ostseestaaten startete. "Wir wollen herausfinden, ob es stimmt, dass Seegraswiesen, Algenwiesen oder Muschelbänke in der Lage sind, pathogene Vibrionen zu reduzieren", erklärt er. Ökosystem-Ingenieure nennt er diese marinen Landschaften, denn sie filtern das Ostseewasser auf natürliche Weise wie Bäume unsere Atemluft.
An fünfzig unterschiedlich bewachsenen Stellen entlang der Küstenlinie Skagen-Flensburg-Klaipeda-Helsinki-Stockholm nahmen Teams verschiedener europäischer Forschungseinrichtungen im Sommer 2021 Wasserproben und verglichen das Bakterienvorkommen. Bestätigt sich die These, kann sich Mikrobiologe Labrenz vorstellen, in stark besuchten Küstenbereichen Seegraswiesen oder Muschelbänke anzusiedeln. "Etwa indem man Kokosfasern auf dem Meeresboden auslegt, auf dem diese Ökotope gut gedeihen und Wurzeln schlagen können. Quasi als Wachstumshilfe, wie man das von Korallengärten kennt."
Ergebnisse erwartet er frühestens 2023, die Vibrionen-filternden Seegraswiesen sind insofern noch Zukunftsmusik.
Verwendete Quellen:
- Nationale Forschungsplattform für Zoonosen: Zoonose des Monats - September 2021: Erregersteckbrief Vibrionen
- Bild.de: Mann stirbt durch Killer-Keime in Ostsee
- Berliner Morgenpost: Ostsee: Behörde warnt vor gefährlichen Vibrionen im Wasser
- Springer Link: Nicht-Cholera-Vibrionen – derzeit noch seltene, aber wachsende Infektionsgefahr in Nord- und Ostsee
- Schleswig-Holstein.de: Vibrio vulnificus: Informationen zum Bakterium "Vibrio vulnificus" im Zusammenhang mit Badegewässern
- European Climate and Health Observatory: ECDC Vibrio map viewer
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