In der Forschung rund um die Langzeitfolgen von Corona sehen Experten große Probleme. Und das beginnt schon bei den Begriffen. Wissenschaftler schreiben in einer aktuellen Analyse, dass wegen methodischer Mängel häufig zu hohe Long-Covid-Raten genannt würden. In der Fachwelt gibt es unterschiedliche Stimmen zu der Studie: Einig sind sich die Wissenschaftler darin, dass Post Covid nicht heruntergespielt werden darf. Wieso die Studienergebnisse zu Corona-Langzeitfolgen differenziert betrachtet werden müssen.

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In akademischen Fachjournalen, aber auch in den Medien und vor allem in den sozialen Netzwerken werden laut einer Studie zu hohe Long-Covid-Raten nach einer überstandenen Corona-Infektion genannt. Das zumindest sehen die Fachleute für Epidemiologie Tracy Beth Høeg und Vinay Prasad von der University of California sowie der Facharzt für Infektionskrankheiten bei Kindern Shamez Ladhani von der St George's University of London so und wollen auf diesen Missstand aufmerksam machen. "Wie methodische Fallstricke zu weit verbreiteten Missverständnissen über Long Covid geführt haben", lautet der Titel ihrer Analyse, die im Fachmagazin BMJ Evidence-Based Medicine erschienen ist.

Die Überschätzung der post-akuten Folgen von Covid-19 würde die Sorgen und Ängste in der Bevölkerung unnötig steigern, kritisieren die drei Autoren. Methodische Fehler hätten zu den irreführenden Angaben über Long Covid geführt. So würden sogar die US-Gesundheitsbehörden Centers for Disease Control (CDC) schreiben: "Nahezu einer von fünf Erwachsenen in Amerika, der Covid-19 hatte, leidet unter Long Covid."

Høeg, Prasad und Ladhani wollen mit ihrem Kommentar aufrütteln im positiven Sinne: Studien müssten verbessert und Aussagen zu Long Covid sorgsam geprüft werden, denn: "Fehlerhafte Methoden dienen nicht denjenigen, denen die Medizin helfen möchte." Durch eine Verbesserung der Standards könne das Risiko einer Fehldiagnose verringert und unangemessene Behandlungen vermieden werden.

"Leider handelt es sich hierbei um eine fehlerhafte Analyse, die mehr Missverständnisse über Long Covid hervorruft, als sie anspricht."

Jeremy Rossman, Universität Kent

Doch nicht alle Expertinnen und Experten teilen diese Einschätzung uneingeschränkt. "Leider handelt es sich hierbei um eine fehlerhafte Analyse, die mehr Missverständnisse über Long Covid hervorruft, als sie anspricht", kritisiert Jeremy Rossman von der School of Biomedicine an der University of Kent. Der Artikel berge das Risiko, Long Covid noch weiter herunterzuspielen, was die Chancen für Betroffene, medizinische Versorgung zu erhalten, verschlechtern könne: "Darüber hinaus stellt der Text die Long-Covid-Forschung im Großen und Ganzen als fehlerhaft dar", so der Virologe.

Wie fehlerhaft ist die Studienlage zu Long Covid tatsächlich?

Im Wesentlichen sprechen die drei in ihrem Beitrag einige nicht erst seit der Corona-Pandemie bekannte Herausforderungen jeder epidemiologischen Forschung an:

  • Was genau sind die Charakteristika der Erkrankung, deren Häufigkeit ich überprüfen will?
  • Gibt es in den Studien Kontrollgruppen der gesunden Bevölkerung und falls ja, wie sind diese Kontrollgruppen zusammengesetzt?
  • Repräsentieren die in einer Studie erfassten Betroffenen tatsächlich die Allgemeinbevölkerung?

Ein Problem bei der Long-Covid-Forschung ist das Durcheinander von Definitionen und Begrifflichkeiten, die in Studien verwendet werden und wurden. Die drei Fachleute bezeichnen in ihrem Kommentar Long Covid als Symptome, die eine direkte Folge der Infektion mit Sars-CoV-2 sind und mindestens zwölf Wochen andauern.

Die CDC und auch die deutschen Leitlinien definierten diesen Zeitraum aber als Post Covid, sagt Andreas Stallmach, Leiter des Long-Covid-Zentrums am Universitätsklinikum Jena und Mitautor der S1-Leitlinie Long-/Post-Covid gegenüber dem Science Media Center (SMC). "Es gibt große Unterschiede in der Prävalenz (Häufigkeit der bestehenden Fälle, Anm.d.Red.), ob ich Patienten sechs Wochen nach Infektion nach Beschwerden frage (Long Covid) oder erst nach zwölf Wochen (Post Covid)."

Stallmach hält die Publikation seiner Kollegen für wichtig, denn sie gebe Denkanstöße. Der These, dass die Häufigkeit von Long Covid beziehungsweise Post Covid überschätzt werde, stimmt er teilweise zu. Es sei zum Beispiel wichtig zu hinterfragen, welche Virusvariante in dem Zeitintervall dominierte, in dem die Untersuchung durchgeführt wurde: "So ist das Risiko von Post Covid während der Delta-Welle deutlich höher ausgefallen als während der Omikron-Welle", sagt Stallmach.

Ursächlicher Zusammenhang zweifelhaft

Was die drei Kritiker bei den unterschiedlichen Falldefinitionen am meisten aufbringt, ist der teilweise unklare ursächliche Zusammenhang der Long-Covid-Symptome zur Corona-Infektion: Keine der vier im Text genannten Definitionen internationaler Gesundheitsorganisationen verlange eine kausale Verknüpfung. Das bedeute, dass jedes Symptom, das nach einer nachgewiesenen oder vermuteten Corona-Infektion auftauche, als Long Covid betrachtet werden könne.

Insgesamt nennt die wissenschaftliche Literatur aktuell mehr als 200 Symptome. Es bestünde also die Gefahr, dass Symptome, die nichts mit der Corona-Infektion zu tun haben, das Label "Long Covid" erhielten.

Ein weiteres Problem, das Høeg, Prasad und Ladhani mit den Begriffen Long Covid/Post Covid haben: Sie erweckten den Eindruck, dass der Zustand bestehen bleibe, wie das etwa für das Auftreten einer Epilepsie nach einer bakteriellen Hirnhautentzündung der Fall sein könnte. Dabei gebe es viele Hinweise, dass sich auch die Langzeitfolgen der akuten Corona-Infektion langsam besserten, wobei einige Symptome länger bräuchten als andere.

Problem der Stichprobenverzerrung

Noch vor vier Jahren existierte Long Covid überhaupt nicht. Gerade wegen all der Unklarheiten dieser noch sehr jungen Erkrankung brauche es in den Studien Kontrollgruppen: Also die Häufigkeit der berichteten Symptome bei Menschen ohne Corona-Infektion, die vom Alter her, dem Geschlecht, Gesundheitszustand, sozioökonomischen Verhältnissen und auch der Zeitspanne, in der die Symptome auftreten, idealerweise den Menschen in der Studiengruppe entsprechen. Bei vielen Long-Covid-Studien gebe es entweder keine – in einem aktuellen Review hatten zum Beispiel nur 22 von insgesamt 194 Studien eine Kontrollgruppe – oder ungeeignete Kontrollen.

Genauso wichtig wie passende Kontrollgruppen ist eine repräsentative Auswahl der Studienteilnehmenden. "Stichprobenverzerrungen treten auf, wenn bestimmte Mitglieder einer Bevölkerung eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, in eine Studie aufgenommen zu werden als andere", schreiben die drei Fachleute im BMJ. Das resultiere in einer Verzerrung der Ergebnisse, die dann nicht auf die Allgemeinbevölkerung übertragen werden könnten.

Als Beispiel nennen Høeg, Prasad und Ladhani den Anfang der Pandemie, bei dem nur bestimmte Bevölkerungsgruppen Zugang zu einem Corona-Test hatten. Das senkte zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, dass in entsprechenden Untersuchungen Patientinnen und Patienten eingeschlossen wurden, die nur milde Covid-19-Symptome – und womöglich auch seltener Long Covid – hatten.

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Long und Post Covid keine Hirngespinste

Gut gemachte Studien stellten im Vergleich zu den Kontrollen kaum oder gar keinen Unterschied in der Häufigkeit der gemeldeten anhaltenden Symptome bei Kindern vier Wochen oder bei Erwachsenen unter 50 Jahren zwölf Wochen nach der Infektion fest, schreiben die drei Fachleute: "Bemerkenswert ist, dass die Ergebnisse der Forschung auf höchstem Niveau im Gegensatz zu vielem stehen, was in den Medien berichtet wird." Wichtig sei es mit solchen hochwertigen Studien die Öffentlichkeit hinsichtlich der Folgen einer Covid-19-Erkrankung zu beruhigen.

"Wir müssen dieses Krankheitsbild ernst nehmen, aber dazu gehört eine ehrliche wissenschaftliche Bestimmung des tatsächlichen Krankheitsrisikos."

Clara Lehmann, Leiterin des Infektionsschutzzentrums und der Post-Covid-Ambulanz der Uniklinik Köln

Clara Lehmann, Leiterin des Infektionsschutzzentrums und der Post-Covid-Ambulanz der Uniklinik Köln, stimmt den in der BMJ-Analyse beschriebenen Mängeln gegenüber dem SMC zu. Sie betont allerdings, dass Long oder Post Covid kein Hirngespinst sei. "Bei einigen Patienten sehen wir auch mehrere Wochen nach der Infektion krasse inflammatorische Reaktionen." Doch das treffe nicht auf den Großteil der Patienten zu: "Wir müssen dieses Krankheitsbild ernst nehmen, aber dazu gehört eine ehrliche wissenschaftliche Bestimmung des tatsächlichen Krankheitsrisikos."

Das Robert-Koch-Institut schreibt, dass die genaue Häufigkeit von Long Covid weiterhin nicht verlässlich abgeschätzt werden könne. "In einer Studie aus Deutschland wird die Häufigkeit von Post-Covid-19 im Zeitraum von 6 bis zwölf Monaten nach einer SARS-CoV-2-Infektion auf mindestens 6,5 Prozent bei überwiegend nicht hospitalisierten Patientinnen und Patienten geschätzt, wenn neben den berichteten Symptomen auch Einschränkungen der alltäglichen Leistungs- und Funktionsfähigkeit berücksichtigt werden", so das RKI.

Ein grundlegendes Problem bestehe darin, sagt Clara Lehmann, dass es aktuell keine eindeutigen Biomarker oder andere Befunde gebe, die eine klare Diagnose von Long Covid ermöglichten. Die Ärztin mahnt in einer aufgeheizten öffentlichen Debatte zu wissenschaftlicher Integrität und Qualität: "Es ist von äußerster Wichtigkeit, eine objektive Grundlage wiederherzustellen und uns nicht von Emotionen, politischem Druck oder persönlichem Leidensdruck leiten zu lassen."

Verwendete Quellen:

Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter. Auf riffreporter.de berichten rund 100 unabhängige JournalistInnen gemeinsam zu Aktuellem und Hintergründen. Die RiffReporter wurden für ihr Angebot mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

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