In kaum einem Fall dürfte ein Impfschaden so gut dokumentiert sein wie bei Erika Seebacher. Dennoch muss die schwer Erkrankte um Medikamente und Versorgungsleistungen kämpfen – gegen Bürokratie und Ablehnung.

Eine Reportage
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Eindrücke und Einschätzungen von Martin Rücker (RiffReporter). Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Das Erste, was Erika Seebacher nach ihrer Impfung komisch vorkommt, ist dieser extreme, metallische Geschmack. Zehn Minuten nach der Injektion setzt er ein, eine gute Stunde später ist er wieder verschwunden. So weit, so normal: Geschmacksveränderungen gehören zu den häufigsten Nebenwirkungen – nicht nur der Corona-Erkrankung, sondern auch der Impfstoffe.

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Zwei Wochen später spürt die 60-Jährige ein "inneres Vibrieren", wie sie das nennt. Nächtelang liegt sie wach, bemerkt rote Punkte am ganzen Körper. Wenn sie aufsteht, wird ihr schwindelig.

Einige Tage geht das so, dann geht sie in die Notaufnahme. Zu viel Stress, vermuten die Ärzte. Eine Blutuntersuchung bleibt ohne Erkenntnis. Und tatsächlich: Innerhalb der nächsten Wochen lassen die Beschwerden nach.

Von der Impfanhängerin zum Pflegefall

Seebachers Zustand bessert sich so sehr, dass sie bald zum zweiten Mal ins Impfzentrum geht. Eine Entscheidung, nach der das Leben der Logopädin nicht mehr dasselbe sein sollte. Sie wird zum Pflegefall – und kämpft inzwischen seit fast drei Jahren um die Anerkennung, dass das, was ihr widerfahren ist, mit der Impfung zusammenhängt.

Sie streitet mit ihrer Krankenkasse, die Medikamente nicht weiterbezahlen will. Und sie wartet seit mehr als anderthalb Jahren darauf, dass Berufsgenossenschaft und Versorgungsamt über ihre Anträge entscheiden, was die Voraussetzung für eine Reihe von Versorgungsleistungen ist – und eine Anerkennung dessen, was Seebacher widerfahren ist.

Für Menschen mit einem Impfschaden war nichts vorbereitet – und das ist bis heute so."

Ihre Geschichte zeugt davon, wie schwer unserer Gesellschaft der Umgang mit Schwerkranken fällt, sobald der Verdacht im Raum steht, eine Impfung könnte etwas mit den Problemen zu tun haben.

Erika Seebacher selbst formuliert ihre Erfahrungen so: "Ich hätte nie gedacht, dass man keine Hilfe bekommt und teilweise verleumdet wird. Da ist kein Sicherheitsnetz. Für Menschen mit einem Impfschaden war nichts vorbereitet – und das ist bis heute so."

Sie sei "eine absolute Impfanhängerin gewesen", sagt Seebacher, "immer gegen alles geimpft." Als die Corona-Impfstoffe da sind, zögert sie nicht. Die erste Impfung erhält sie im März 2021. Die zweite acht Wochen danach, am 18. Mai. Und anders als nach dem ersten Termin, deutet nun erst einmal nichts auf ein Problem hin: Der leichte Schmerz, den sie an der Einstichstelle verspürt, vergeht schnell.

Zuerst schmerzt der Fuß, am Ende ist das Gesicht gelähmt

Der 29. Mai 2021 verändert ihr Leben radikal. Elf Tage nach der zweiten Impfung trifft es sie, ohne Vorwarnung: "Da konnte ich plötzlich nicht mehr gehen." Der linke Fuß ist geschwollen und schmerzt unerträglich. In den nächsten Wochen breiten sich die Beschwerden aus. Erst auf den anderen Fuß, die Beine, dann die Arme und Hände. Irgendwann ist auch das Gesicht gelähmt. Zeitweise versagt ihre Stimme.

Bis heute ist die mittlerweile 63-Jährige schwer krank. Wer sie in ihrem Haus am Rande von Stuttgart besucht, bemerkt: Sie hat sich auf die neuen Umstände eingerichtet: In zwei Stockwerken stehen Rollatoren bereit, sie hat einen Treppenlift einbauen lassen, es gibt jetzt Haltegriffe an den Wänden und einen Duschsitz. Den Schreibtisch kann Erika Seebacher über das Bett schieben, um wenigstens ein bisschen am Laptop zu arbeiten – wenn ihr Zustand es zulässt.

Seebacher leidet unter Fatigue, einer schweren, chronischen Erschöpfung. Ärzte haben die Multisystemerkrankung ME/CFS bei ihr diagnostiziert. Aufnahmen von Kernspintomographen zeigten Muskelschäden und Nervenentzündungen überall im Körper. Die Schmerzen erträgt sie nur mit starken Schmerzmitteln. Nach jedem Aufwachen überlegt sie sich, ob sie duschen kann oder die Energie sparen muss, weil zum Beispiel später ein Arzttermin ansteht.

Erika Seebacher empfängt in ihrem Esszimmer, die Füße hochgelegt auf einer Plastikkiste. "Der Tisch ist ein bisschen voll", sagt sie entschuldigend. Fünf dicke Aktenordner liegen vor ihr: Die Dokumente ihrer Krankengeschichte, ihres Ringens mit Behörden und Krankenkasse sind sauber in Prospekthüllen abgeheftet. Sie gewährt Einblick in alle Unterlagen. "Ich möchte Würde", sagt sie bestimmt. "Ich möchte gesund werden. Ich hatte ein wirklich gutes Leben vorher – das möchte ich zurück."

Manchmal sucht sie beim Sprechen nach einem Wort. Dann beginnt ihr Mund zu zittern. "So etwas ist mir früher nie passiert." Diese Aussetzer bewegen sie. Als Logopädin ist es doch ihr Beruf, anderen Menschen bei Sprachschwierigkeiten zu helfen.

Schwere Impfschäden sind selten

Dass die Impfstoffe schwere Corona-Verläufe und Todesfälle nach einer Infektion verhindert haben, ist wissenschaftlich gut belegt. Wahrscheinlich verringern die Vakzine auch das Risiko für Langzeitfolgen einer Covid-Erkrankung, für das Post-Covid-Syndrom.

Wie alle Impfstoffe aber können auch die gegen SARS-CoV-2 Nebenwirkungen haben. Sehr selten schwere, doch dass es solche Impfschäden gibt, ist unbestritten.

Wie viele es sind? Darüber gibt es keine verlässlichen Angaben, aber viel Streit. Nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) kamen in Deutschland so viele Verdachtsmeldungen über Post-Covid-ähnliche Impffolgen zusammen wie im gesamten Rest der Welt. Das PEI ist als Aufsichtsbehörde für die Überwachung von Impfnebenwirkungen zuständig.

Die hohe Zahl zeigt: Die Debatte ist aufgeheizt. Und den Nachweis zu führen, ist fast unmöglich. Darum ist das medizinisch nicht klar definierte Post-Vac-Syndrom zu einer Projektionsfläche für viele unerklärliche Beschwerden geworden – und zu einem Kampfbegriff mancher Impfgegner. All das macht es für die wirklich Betroffenen schwerer. Die Studienlage deutet darauf hin, dass bei Weitem nicht alle Beschwerden, hinter denen Menschen Post-Vac vermuten, mit der Impfung zusammenhängen.

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Der Fall von Erika Seebacher liegt anders. Zum einen sucht die Stuttgarterin selbst monatelang nach allen möglichen Ursachen – nur die Impfung verdächtigt sie zunächst nicht. Weil die Schmerzen im Fuß ihren Anfang nehmen, denkt sie an eine Folge des Sports. "Ich war drei Mal die Woche im Fitnessstudio. Sport war mein absolutes Hobby", sagt sie. Hatte sie es einfach beim Training übertrieben?

Als die Probleme beginnen, will Seebacher "so schnell wie möglich wieder fit werden". Sie nimmt all ihre Energie, zieht von Arzt zu Arzt und von Klinik zu Klinik, um ihren Beschwerden auf den Grund zu gehen. Bis heute hat sie 60 Praxen konsultiert, sich 17 Mal in stationäre Behandlung begeben.

Vor allem am Anfang ist diese Odyssee eine gewaltige Herausforderung. Von September 2021 an kann sie fast nur noch liegen – und an manchen Tagen muss Seebachers Mann ihr die Teetasse an den Mund halten, weil ihr selbst die Kraft dazu fehlt. Er ist es auch, der sie irgendwie ins Auto bringt, "mit ganz vielen Kissen auf der Rückbank polstert" und liegend zu den Untersuchungen fährt.

"Am ehesten" Post-Vac, heißt es in einem Arztbrief

Nach und nach schließen Ärzte orthopädische, neurologische und genetische Erkrankungen aus. Erst dann keimt der Gedanke an eine Impffolge – bei der Patientin genauso wie bei einer ganzen Reihe von Ärztinnen und Ärzten. Dies ist die zweite Besonderheit, die ihren Fall von vielen anderen unterscheidet.

Nach der Impfung habe sich Seebachers Leben "rapide verändert", bescheinigt ihr die Hausärztin im April 2022 noch zurückhaltend in einem Schreiben. Mit der Zeit werden die Arztbriefe deutlicher. "Autoimmunreaktion in zeitl. Zusammenhang nach einer Impfung", steht da unter dem Briefkopf der einen Universitätsklinik. "Chronisches Fatigue-Syndrom nach Covid-Impfung" heißt es im Entlassungsbrief einer zweiten.

Ein niedergelassener Neurologe bescheinigt Seebacher "neuropathische Schmerzen nach Sars-CoV-2-Vakzination" – und ein Universitätskollege stuft die Beschwerden "am ehesten im Sinne eines Post-Vac-Syndroms" ein. In der Spezialambulanz der Uniklinik Marburg, einer zentralen Anlaufstelle für Menschen aus dem ganzen Land mit Verdacht auf Impfschäden, erhalten nur die Wenigsten nach der ersten Untersuchung einen Folgetermin – Seebacher ist dort gleich fünf Mal in stationärer Behandlung.

Viele Betroffene beklagen, dass sie sich nicht ernstgenommen fühlten. Auch Erika Seebacher erlebt Ärzte, die über das Thema Impfnebenwirkung gar nicht erst sprechen, sie schnell hinauskomplimentieren wollen. Doch weil sie nicht lockerlässt, Diagnostik um Diagnostik anstrengt, findet sie Mediziner, die sie begleiten.

Wohl deshalb ist ihr Fall so gut dokumentiert wie kaum ein anderer – der Zusammenhang zur Impfung kein bloßer Verdacht, sondern von mehreren Ärzten untermauert. Sollte es da nicht ein Leichtes sein, Hilfe zu bekommen? Von wegen.

In den Anerkennungsverfahren verstreicht Monat um Monat

Relativ problemlos bescheinigen Ämter Seebacher den Pflegegrad 3 – eine schwere Beeinträchtigung, die Ansprüche auf Pflegeleistungen begründet – und einen Behinderungsgrad von 80 Prozent. Doch die Probleme bleiben – vor allem die finanziellen. Weit über 50.000 Euro hat die Stuttgarterin bereits aus eigener Tasche bezahlt: für Laboruntersuchungen und Medikamente, private Arzttermine und den Umbau ihres Hauses.

Im März 2022, als sie erstmals die Diagnose ME/CFS im Zusammenhang mit der Impfung erhält, beantragt sie bei der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), die für die Logopädin zuständig ist, die Anerkennung der Impffolgen als Arbeitsunfall.

550 derartige Verdachtsfälle haben Mitglieder der BGW bis heute gemeldet. Über 348 Anträge hat die Genossenschaft bis Anfang 2024 entschieden, bei etwas mehr als der Hälfte (178) stimmte sie zu.

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Die erste Hürde hat Erika Seebachers Antrag bereits genommen: Die BGW erkennt den Arbeitskontext ihrer Impfung an. Die Corona-Impfung gilt als Teil des betrieblichen Gesundheitsschutzes – sowohl für die Logopädin selbst als auch für ihre Patienten. Jetzt aber steckt der Antrag fest. Denn nun muss die BGW entscheiden, ob sie die Impfung als Auslöser der Beschwerden sieht. Mitte Januar, als das Gespräch stattfindet, hat Seebacher bereits seit 14 Monaten keine Nachricht mehr von der Berufsgenossenschaft erhalten.

Noch wichtiger für sie ist ein zweites Verfahren: Das Versorgungsamt in Böblingen prüft die Anerkennung eines Impfschadens. Davon hängen jene Leistungen ab, die der Staat im Infektionsschutzgesetz für Impfgeschädigte vorsieht – von Rentenzahlungen bis zu der Möglichkeit, Kosten für Hilfsmittel wie den Treppenlift erstattet zu bekommen.

Am 1. Oktober 2022 stellt Seebacher ihren Antrag beim Landratsamt Böblingen. Die Behörde ist zuständig für ein Gebiet mit zwei Millionen Einwohnern. Bis Anfang 2024 haben 138 von ihnen die Anerkennung eines Impfschadens beantragt.

Bundesweit haben bis Januar 2024 gut 12.000 Menschen einen Impfschaden geltend gemacht, wie eine Recherche der "Neuen Osnabrücker Zeitung" ergab. Rund die Hälfte von ihnen erhielt bisher einen Bescheid, weniger als 500 einen positiven. Das Landratsamt Böblingen beschied bislang zwei Anträge positiv, erst 13 Verfahren sind bislang abgeschlossen. 90 Prozent der Antragsteller warten also noch auf ihren Bescheid, so wie Erika Seebacher nun seit anderthalb Jahren.

Verunreinigter Impfstoff

In ihrem Fall kommt alles zusammen, was Diskussionen über die Impfung regelmäßig emotional zum Überkochen bringt. Da ist zum Beispiel die Sache mit den Verunreinigungen.

Seebacher erhielt den AstraZeneca-Impfstoff, bei der ersten Impfung ausgerechnet eine Dosis aus der Charge Nummer ABV 5811: Es ist eine von nur drei Chargen, die zufällig in einer Untersuchung der Uniklinik Ulm landeten – die Ergebnisse wurden just Mitte Mai 2021 öffentlich – zwischen Seebachers zweiter Impfung und dem Beginn der Nebenwirkungen. Im Labor hätten sich "deutliche Verunreinigungen" des Impfstoffs mit Fremdproteinen gezeigt, sagt Stefan Kochanek, Leiter der Abteilung Gentherapie der Ulmer Universitätsmedizin.

Kochanek ist gewiss kein Impfgegner. Am Telefon betont er: "Der Vorteil der Impfung überwiegt die seltenen Nebenwirkungen sehr deutlich." Seine Untersuchung aus dem Frühling 2021 interpretiert er so: "Da stimmte etwas nicht mit der Qualität des Impfstoffs."

Um sicherzugehen, dass das Qualitäts- nicht auch ein Sicherheitsproblem darstellt, haben er und Kollegen einen möglichen Zusammenhang zu bereits bekannten, schweren Nebenwirkungen – den Sinusvenenthrombosen – untersucht. Kochanek schließt nicht gänzlich aus, dass die Verunreinigungen das Auftreten der Thrombosen begünstigt haben könnten, zumal diese nach einer Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff häufiger berichtet wurden als bei dem ebenfalls vektorbasierten Vakzin von Johnson & Johnson, der in der Stichprobe der Ulmer Forscher sauber war. Auslöser der Thrombosen waren die Fremdproteine nach dem Stand der Dinge jedoch nicht.

Aber könnten die Verunreinigungen die Ursache für Post-Covid-artige Beschwerden sein? Der Professor geht – wie das staatliche Paul-Ehrlich-Institut – nicht davon aus: "Es gibt keinen Nachweis, dass dies für Nebenwirkungen verantwortlich ist."

Beleg für Rolle des Spike-Proteins fehlt

Mehr noch als die Verunreinigungen hat eine Eiweißstruktur das Interesse der Forschung geweckt: das Spike-Protein. Es ist ein Teil der Coronavirushülle und hilft dem Erreger, an Körperzellen anzudocken. In der Überzeugung mancher Wissenschaftler könnte es beim Entstehen von Post-Covid eine Rolle spielen – und womöglich vergleichbare Langzeitfolgen nach einer Impfung bewirken. Denn die Impfstoffe enthalten einen Bauplan, nachdem der Körper das Spike-Protein selbst produziert.

Bei Erika Seebacher, so viel ist klar, wiesen zwei Labore per Nerven- und Muskelbiopsie Spike-Protein in den Füßen nach. Doch welche Bedeutung hat ein solcher Fund? Nach Einschätzung mancher Ärzte könnte er eine Ursache für ihre Beschwerden sein. Ein wissenschaftlicher Beleg fehlt aber auch für diese These.

Weil die Krankheitsmechanismen unklar bleiben, eine mit klinischen Studien belegte Therapie für Seebachers Beschwerden fehlt, probieren Seebachers Ärzte auf Grundlage der Befunde mehrere Behandlungen aus. Seebacher versucht es mit einer Kortison-Stoßtherapie, mit Immunglobulinen, mit Physiotherapie, mit einem Blutwäscheverfahren – zunächst bei Privatärzten, dann wiederholt in der Marburger Uniklinik. Vieles verpufft, anderes führt nur kurz zu einer Besserung, manches macht die Beschwerden sogar schlimmer.

Solche Rückschläge begleiten Seebacher ständig. Im August 2022 will sie aus dem Rollstuhl aufstehen, knickt mit den Füßen weg und bricht sich das Knie. Bis heute sorgen die Muskel- und Nervenschäden dazu, dass sie sich nur langsam und mit unsicheren Schritten in Spezialschuhen aus Kautschuk durch das Haus bewegt, sich dabei von der Stuhllehne über die Türklinke zum Türrahmen hangelt, bei jedem Schritt von ihrem Mann begleitet, um einen neuen Sturz zu verhindern.

Weil für Post-Covid und Post-Vac bislang erforschte Therapien fehlen, setzen Ärzte auch auf solche Medikamente und Verfahren, die nur für andere Krankheitsbilder zugelassen sind. Die Not der Patienten ist derart groß, dass Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach diese Zweckentfremdung – "Off-Label-Use" genannt – erleichtern möchte: Der SPD-Politiker lässt eine Liste mit Therapien erstellen, die die Krankenkassen künftig trotz fehlender Zulassung bezahlen sollen.

Somit fiele Ärzten die Verordnung wesentlich leichter. Auf Nachfrage erklärte Lauterbachs Ministerium jedoch, die Liste sei nur für Post-Covid geplant, nicht für andere postvirale Erkrankungen oder für vergleichbare Symptome nach der Impfung. Betroffene wären also weiterhin darauf angewiesen, Ärzte zu finden, die sich auf die Heilversuche einlassen, und Kassen, die für die Kosten aufkommen.

Krankenkasse will Kosten zunächst nicht übernehmen

Bei Erika Seebacher verbessern drei medizinische Ansätze ihre Lebensqualität. Mestinon, ein Medikament gegen autoimmunologische Muskelschwäche, gibt ihr ein wenig Kraft zurück. Ein starkes Schmerzmittel macht die Nervenschmerzen erträglich. Und regelmäßige Plasmapheresen, bei der das Blutplasma ausgetauscht und Auto-Antikörper, die das eigene Gewebe bekämpfen, entfernt werden. Seit einigen Monaten geht Seebacher dazu immer wieder für bis zu zwei Wochen in die Tübinger Universitätsklinik.

"Das ist das, was mir bisher wirklich geholfen hat", sagt sie. Die Behandlung bedeutet für sie, die Sportbegeisterte, zwar kein Zurück in ihr altes Leben, doch sie erlaubt es ihr, immerhin gelegentlich wieder 50 Meter am Rollator zu gehen. Allerdings hält der Fortschritt nur sechs Wochen lang – dann lässt der Effekt nach und es folgt die nächste Plasmapherese.

Doch im Januar stehen ausgerechnet diese Behandlungen infrage. Seebacher zieht ein Schreiben der Techniker Krankenkasse (TK) hervor, datiert auf den 30. November 2023. "Leider", heißt es darin, könne die Kasse Mestinon und das Schmerzmittel "nicht bezahlen". Eine weitere Kostenübernahme lehnt die TK ab, weil es "keine" oder "keine ausreichenden Indizien" dafür gebe, dass die Mittel "den Krankheitsverlauf bei neuropathischen Schmerzen im konkret vorliegenden Fall spürbar positiv beeinflussen" können, wie es in dem von der TK beauftragten Gutachten des Medizinischen Dienstes (MD) heißt.

"An den Kosten dieser Behandlung können wir uns leider nicht beteiligen."

Aus einem Brief der Techniker Krankenkasse an Erika Seebacher

Dabei sahen Seebachers Ärzte den positiven Einfluss durchaus, weshalb sie eindringlich für eine Fortsetzung der Therapie warben. Der MD aber empfahl stattdessen nach Aktenlage unter anderem eine Reha – während ihre Hausärztin Seebacher als nicht rehafähig einstuft.

Eine Woche nach diesem Brief erhielt Seebacher ein weiteres Mal Post von der TK. Diesmal geht es um einen neuen Behandlungsansatz: Weil die Plasmapherese Erfolge, aber auch Risiken mit sich bringt, wollen Seebachers Tübinger Ärzte sie auf das Medikament Rituximab umstellen, zugelassen für Autoimmunerkrankungen.

Aus ihrer Sicht wäre dies der logische nächste Schritt: Die Plasmapherese filtert alle paar Wochen Autoantikörper aus dem Blut. Rituximab würde die B-Zellen im Blut blockieren und so verhindern, dass sich die Autoantikörper überhaupt bilden. Doch in dem Brief der TK heißt es erneut: "An den Kosten dieser Behandlung können wir uns leider nicht beteiligen."

Abermals war der Medizinische Dienst skeptisch. Er vermisst nicht nur klinische Studien zu dem Medikament, sondern zweifelt grundsätzlich die Diagnose von Seebachers Ärzten an, weil das Paul-Ehrlich-Institut Post-Covid-ähnliche Symptome bislang nicht als Impfnebenwirkung anerkennt. Dieses Mal schlägt der MD Antidepressiva, Psychotherapie und erneut eine Reha als Alternativen vor.

Steht die Diagnose "Post-Vac" Hilfeleistungen im Weg?

Im Gespräch ist Seebacher aufgewühlt: Die einzigen Mittel, die ihr nach eigener Auskunft bisher geholfen haben, könnten ihr plötzlich nicht mehr verschrieben werden. Trägt die Diagnose "Post-Vac" dazu bei, dass die Krankenkasse eine Kostenübernahme ablehnt?

Die TK erklärt dazu auf Anfrage, sie entscheide unabhängig von Diagnosen. Bei Post-Vac, so eine Sprecherin, sei die Lage schwierig, weil es "diverse Therapieansätze" gebe, "deren Nutzen noch nicht eindeutig gesichert ist."

Doch zeitgleich mit der Anfrage Mitte Januar tut sich plötzlich etwas: Ein zweites MD-Gutachten im Auftrag der TK, ausgelöst durch Seebachers Widerspruch, kommt zwar erneut zu dem Schluss, dass die medizinischen Voraussetzungen für den Einsatz von Mestinon und Schmerzmittel nicht erfüllt seien. Es erkennt diesmal aber an, dass die Ärzte alle zugelassenen therapeutischen Mittel bei Seebacher erfolglos ausgeschöpft haben – weshalb die TK einer Kostenübernahme schließlich doch zustimmt.

Ende Februar bewilligt die TK dann auch die Behandlung mit Rituximab an der Uniklinik Tübingen für zunächst sechs Monate. In den zum Widerspruch eingereichten Unterlagen hatten Seebachers Ärzte die Symptome nicht mehr "Post-Vac", sondern einer nicht näher zu bestimmenden Autoimmunerkrankung zugeordnet. Schwer zu sagen, ob dies eine Rolle spielte – jedenfalls bewertet der MD den Heilversuch in seinem zweiten Gutachten als "plausibel". Im Mai soll es damit nun endlich losgehen.

Für die Berufsgenossenschaft bleibt die Diagnostik "nicht abgeschlossen"

Bei ihren anderen Verfahren hängt Seebacher weiter in der Luft. Das Landratsamt Böblingen forderte zuletzt neue ärztliche Dokumente an, um zu prüfen, ob ein "wissenschaftlich anerkannter Zusammenhang zwischen der geltend gemachten Gesundheitsstörung und der Impfung" besteht. Dass alles so lange dauert, begründet die Behörde vor allem damit, sie wolle das Anerkennungsverfahren der Berufsgenossenschaft abwarten. Diese habe sie bereits mehrfach "an die Erledigung" erinnert.

Die Berufsgenossenschaft wiederum entschuldigt sich nach einer Anfrage in einem Brief bei Seebacher für die lange Verfahrensdauer. Die hohe Zahl der gemeldeten Covid-bezogenen Arbeitsunfälle in der Hochphase der Pandemie habe die Prüfer überlastet, erklärt eine Sprecherin. Zudem sei eine interne Stellungnahme "zwischen Kopien verloren" gegangen. Ein Gutachter solle nun klären, so heißt es zunächst, ob eine "hinreichende Wahrscheinlichkeit" für die Impfung als Grund für Seebachers Beschwerden spricht. Denn aus Sicht der Berufsgenossenschaft ist die "Diagnostik bis heute nicht abgeschlossen".

"Das wäre zu schmerzhaft."

Erika Seebacher, warum sie keine Pläne für die Zukunft macht

Was die Frage aufwirft, was eine Schwerkranke eigentlich noch unternehmen soll, wenn der Kontakt zu 60 Ärzten nicht ausreicht?

Im April schließlich ändert die BGW ihre Ansicht. Anstelle einer Begutachtung will die Genossenschaft nun warten, zu welcher Einschätzung das Versorgungsamt kommt, schreibt sie an Seebacher.

Im Erdgeschoss ihres Hauses haben Erika Seebacher und ihr Mann an nahezu alle Wände große Schwarz-Weiß-Fotografien gehängt. Sie zeigen wilde Tiere – Löwen, Tiger, Antilopen. "Unser Traum war immer eine Safari", erzählt die 63-jährige. Derartige Pläne für eine hoffentlich bessere Zukunft will sie derzeit nicht machen. "Das wäre zu schmerzhaft", sagt sie.

Erst einmal kämpft sie selbst wie eine Löwin um ihre Gesundheit – und um Akzeptanz ihrer Beschwerden. Fest vorgenommen hat sie sich, es nicht hinzunehmen, sollte das Versorgungsamt einen Impfschaden nicht anerkennen. "Dann werde ich klagen", sagt sie mit fester Stimme: "Da geht es mir um Gerechtigkeit."

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Verwendete Quellen

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