• Seit über 40 Jahren fordern Wissenschaftlerinnen und Planerinnen mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Verkehrsplanung. Passiert ist bislang wenig.
  • Was ist dran an den Forderungen und warum hat sich bislang so wenig verändert?
  • Ein Gespräch mit der Expertin für Gender und Mobilität Ines Kawgan-Kagan.
Ein Interview

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Warum ist das Thema Gender in der Mobilität überhaupt wichtig?

Ines Kawgan-Kagan: Mobilität ist eine Daseinsvorsorge. Sie ermöglicht uns sowohl die Teilhabe am Arbeitsleben als auch die soziale Teilhabe. Wer bei der Planung nicht berücksichtigt wird, dem wird die gesellschaftliche Teilhabe erschwert. Vom Geschlecht wissen wir, dass es eine sehr einflussreiche Variable ist. Laut International Transport Forum ist Gender eine der robustesten Faktoren bei der Verkehrsmittelwahl. Manchmal sogar robuster als das Einkommen oder das Alter.

Viele setzen Gender in der Mobilität gleich mit Frauen, aber es geht um mehr, oder?

Gender heißt nicht automatisch Frauen. Gender bezeichnet das soziale Geschlecht; und das haben wir alle. Es bezieht also alle ein; nicht nur die, die in die Standard-Kategorie passen: Mann, weiß, berufstätig, mit einem linearen Mobilitätsmuster. Wenn man von Gendergerechtigkeit spricht, meint man auch Kinder, Ältere, Menschen mit Einschränkungen, anderer Hautfarbe und viele andere. Die Verkehrsplanung, wie wir sie kennen, bedient in erster Linie die Bedürfnisse von Männern, die morgens auf direktem Weg zur Arbeit fahren und abends ebenso wieder heimkehren. Langsam setzt sich aber die Erkenntnis durch, dass es durchaus Sinn macht, auch Frauen mit ihren Mobilitätsansprüchen mehr in die Planung einzubeziehen. Das ist überfällig, schließlich wird die Hälfte der Bevölkerung ansonsten ausgeblendet.

Worin unterscheiden sich weibliche und männliche Mobilitätsmuster?

Studien zeigen uns die Wegemuster von Frauen und Männern sehr genau auf. Anders als Männer legen berufstätige Frauen eher Wegeketten zurück. Sie bringen ihre Kinder vor der Arbeit in die Kita, gehen auf dem Heimweg einkaufen oder begleiten ältere Verwandte zum Arzt. Die aktuellen Sharing-Angebote vom Auto bis zum Roller passen sehr gut zu der linearen Alltagsmobilität der Männer. Für Frauen dagegen sind sie oft unattraktiv. Das liegt neben den vielen Zwischenstopps und Begleitfahrten auch an ihrer Sozialisation, die ihr Mobilitätsverhalten prägt.

Wie beeinflusst die Sozialisation das Mobilitätsverhalten?

Unsere Erziehung, unser Umfeld und unsere Erfahrungen prägen unser Verhalten und damit auch die Entscheidung darüber, wie wir unterwegs sein wollen. Studien zeigen, dass Frauen in ihrer Alltagsmobilität häufig weniger mutig und experimentierfreudig sind als Männer. Das gilt nicht unbedingt für das Individuum, aber für die Mehrheit der Frauen. Männer dagegen gehören zu den Early Adoptern. Sie probieren neue Technologien wie etwa Sharing-Mopeds, -Tretroller oder -Autos zuerst aus. Carsharing nutzen sie, um neue Modelle Probe zu fahren.

Und Frauen?

Für Frauen muss das Angebot vor allem praktisch sein. Insbesondere, wenn sie mit Kindern oder älteren Menschen unterwegs sind. Sie haben oft wenig Zeit und wollen ein Carsharing-Auto nutzen, um etwas von A nach B zu transportieren oder weil auf der Strecke das Fahrrad oder der ÖPNV keine Option sind. Sie wollen keine neuen Technologien ausprobieren. Sie sind in ihrer Alltagsmobilität viel pragmatischer als Männer.

Gender wird bei der Verkehrsplanung noch nicht mitgedacht

Ist das nicht auch ein Klischee?

Ein Klischee ist ein Vorurteil, das wir haben und auf andere anwenden. Man muss aber sehr genau unterscheiden zwischen gendertypischen Stereotypen und gendertypischen Mobilitätsmustern. Gendertypisch heißt, wir können es über die Daten nachweisen, mithilfe von Studien. Dieses Verhalten gibt es also tatsächlich. Mit Genderstereotypen bedienen wir das Vorurteil und sagen: Alle Frauen sind so. Das ist aber genau das, was wir nicht wollen. Deshalb schauen wir uns die gendertypischen Fakten in den Mobilitätsmustern an, also die Unterschiede, wie sich Männer und Frauen fortbewegen. Der nächste Schritt ist dann, zu hinterfragen, warum das Mobilitätsmuster so aussieht und wie man es verändern kann.

In den 90er Jahren war das Thema Gender- und Geschlechtergerechtigkeit in der Mobilität schon mal sehr populär. Auf der Straße ist davon aber wenig angekommen. Woran liegt das?

Damals haben vor allem Frauen das Thema in der Mobilität aufgegriffen. Sie haben es aber entweder nur nebenbei bearbeitet oder im Rahmen eins spezifischen Projekts. Ihre Ressourcen waren begrenzt, das Thema voranzubringen. Anders gesagt: Gender wurde in Deutschland nie institutionalisiert. Noch immer planen überwiegend Männer die Stadt und den Verkehr und haben Gender nicht auf dem Schirm. Selbst in den Hochschulen wird es weiterhin vergessen. Die unterschiedlichen Kundengruppen werden zwar genannt, aber das Thema steht nicht explizit auf dem Lehrplan. Deshalb ist es immer noch nicht selbstverständlich, Gender auf den verschiedenen Planungsebenen mitzudenken und mitzuplanen.

Gibt es Städte im Ausland, die es besser machen?

Paris mit der Stadt der 15 Minuten und Barcelona mit seinen Superblocks gehen in die Richtung einer gendergerechten Verkehrsplanung. Sie planen die Stadt der kurzen Wege, in der es sicher schnell und angenehm ist, zu Fuß zur Schule, zur Kita oder zum Einkaufen zu gehen oder mit dem Rad zu fahren. Dazu gehören aber auch Grünflächen im Kiez oder mal eine Bank, zum Ausruhen.

Wien ist bei der Stadt- und Verkehrsplanung sehr weit. Sie sind Vorreiter in Bezug auf Sicherheit im öffentlichen Raum. Die PlanerInnen achten inzwischen auf Barrierefreiheit, mehr Platz auf Bürgersteigen und dass die Menschen eine Kreuzung während einer Grünphase überqueren können. Die drei Städte machen ihren BewohnerInnen nachhaltige Mobilität auf kurzen Wegen leicht. Generell kann man sagen, dass Angebote, die sich nicht nur mit dem Auto beschäftigen, gendersensibler und eher gendergerecht sind.

Im Umkehrschluss ist das Auto also ein männliches Verkehrsmittel?

Genau. Frauen sind viel häufiger zu Fuß unterwegs. Zu Fuß gehen ist also eher weiblich. Anders beim Radfahren. Das machen in Deutschland beide Geschlechter in Abhängigkeit von der Infrastruktur. Wir wissen, dass für Frauen die infrastrukturelle Sicherheit beim Radfahren wichtig ist. Sie wollen also lieber auf separaten Radwegen unterwegs sein, als sich mit Autos die Fahrbahn zu teilen. Außerdem spielt der Fahrkomfort für sie eine Rolle. Strecken mit Kopfsteinpflaster meiden Frauen, wenn sie ein Kind im Kindersitz haben oder den Einkauf in den Fahrradtaschen. Die Niederlande sind beim Thema Gendergerechtigkeit schon viel weiter als Deutschland. Sie legen seit Jahren sichere und zusammenhängende Radwegenetze an. Das kommt generell eher den Frauen zugute, weil sie häufiger im eigenen Kiez unterwegs sind und dort die meisten Strecken zurücklegen.

Sie haben für Ihre Doktorarbeit den Einfluss von Gender in der Sharing-Mobilität bei E-Autos untersucht. Warum?

Das gemeinsame Nutzen von Fahrzeugen ist eine pragmatische Entscheidung und unemotional. Das entspricht eher der Alltagsmobilität von Frauen. Sie sind auch deutlich klimafreundlicher unterwegs als Männer. Darum würde der E-Antrieb gut zu ihnen passen. Gleichzeitig ist die Shared Mobility aber generell ein Männerding.

Inwiefern?

60 bis 80 Prozent der NutzerInnen von Car-, Moped- und E-Tretroller-Sharingangeboten sind Männer. Diese Verteilung hält sich hartnäckig, seit es Carsharing gibt, und setzt sich auch bei den neuen Angeboten fort. In meiner Stichprobe der E-Auto-Userinnen waren 90 bis 96 der TeilnehmerInnen männlich. Das kann zu einem Problem werden, wenn am Ende der Untersuchung Empfehlungen ausgesprochen werden. Sie entsprechen dann nur den Bedürfnissen von Männern. Das sehen die Entscheider aber oft nicht, die die Aussagen aus den Studien verwenden. Sie gehen davon aus, die Stichprobe ist repräsentativ.

Wie können Sharing-Anbieter ihre Angebote für Frauen attraktiver gestalten, um das zu ändern?

Zunächst müssen sie die eigenen Daten hinterfragen. Die liefern die NutzerInnen mit jeder Ausleihe selbst. Ein Algorithmus optimiert anhand dieser Daten die Anzahl der Fahrzeuge, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort auf die KundInnen warten. Solange überwiegend Männer die Fahrzeuge ausleihen, optimiert der Algorithmus auch stets für sie das Angebot. Die Ausreißer, in diesem Fall die Nutzungsdaten von Frauen, werden während des Rechenvorgangs automatisch aus dem Datenpool gefischt. Deshalb gilt: Wer Shared Mobility für Frauen attraktiv machen will, muss seinen Datenpool hinterfragen und auch die Alltagsmobilität von Frauen einbeziehen.

Männer dürfen nicht länger das Maß der Planung sein

Was müssen sie im Alltag an ihrem Angebot ändern?

In meiner Doktorarbeit habe ich dazu rund 30 Aspekte identifiziert. Zunächst müssen sie die Hemmschwelle senken. Das geht, indem sie statt fünf verschiedener Fahrzeuge ein einheitliches Modell anbieten und ein einheitliches Buchungs-Tool. Hilfreich ist auch eine Online-Einweisung zum Fahrzeug. Die kann bei der ersten Anmeldung als Pop-up auf dem Display erscheinen.

Als ich das erste Mal im E-Car-Sharing-Auto saß, dauert es acht Minuten bis ich den Wagen am Laufen hatte. Außerdem sind finanzielle Anreize attraktiv. Dazu gehören Sondertarife für Familien oder Betreuungspersonen rund um Kitas und Pflegeeinrichtungen. Bei Kosten von rund 30 Cent pro Minute, wie beispielsweise "ShareNow" sie für fast alle Fahrzeuge erhebt, wird das Zwischenparken an der Kita oder vor der Arztpraxis sonst schnell teuer.

Wie müssen PlanerInnen und Unternehmen vorgehen, um eine gendergerechte Mobilität anzubieten?

Pendlerwege und damit die Alltagsmobilität der Männer dürfen nicht länger das Maß der Planung sein. Im Idealfall werden die verschiedenen Perspektiven von Frauen, Älteren, Kindern und allen anderen bei jedem Schritt der Planung und bei jedem Schritt der Produktentwicklung einbezogen.

Klingt nicht gerade nach einer einfachen Checkliste!

Das stimmt. Um gendergerecht zu planen, brauchen wir viel Wissen über die Sozialisation der Menschen, für die wir planen, wir müssen ihre Einstellung zu gewissen Dingen im Blick haben und wir müssen auch historische Entwicklungen einbeziehen. Aber es ist einfacher, eine Straße, einen U-Bahnhof oder das Angebot für ein Sharing-Moped Schritt für Schritt gendergerecht zu planen, als ein auf Männer ausgerichtetes Angebot im Nachhinein an die Bedürfnisse von Frauen anzupassen.

Ist gendergerechte Planung teurer?

Gendergerechte Planung ist ein Baustein innerhalb eines Projekt wie etwa die Beteiligungsverfahren bei Straßenbauprojekten. Sie wurden ebenfalls lange nicht mitgedacht, weshalb dafür oft das Budget und das Personal fehlten. Mittlerweile merkt man aber: Man bekommt eine bessere Planung, wenn man alle einbezieht. Ähnlich ist es bei gendergerechter Planung. Und für Sharing-Anbieter kann sich das richtig lohnen. Schließlich gewinnen sie viele neue KundInnen.

Frau Kawgan-Kagan, vielen Dank für das Gespräch.

Zur Person: Dr-.-Ing. Ines Kawgan Kagan hat Verkehrswesen studiert, Soziologie, Öffentliche Verwaltung und BWL. Sie forschte am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Berlin, an der HTW Berlin und der Technischen Universität Berlin und war als Unternehmensberaterin für die APPM GmbH tätig. 2020 hat sie mit Carolin Kruse das Accessible Equitable Mobility Institute gegründet. Sie ist Council Member und German Ambassador der Association for European Transport, die eine Brücke bildet zwischen Wissenschaft und Praxis. Dort leitet sie die Arbeitsgruppe Gender and Mobility.
Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter. Auf riffreporter.de berichten rund 100 unabhängige JournalistInnen gemeinsam zu Aktuellem und Hintergründen. Die RiffReporter wurden für ihr Angebot mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

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