Der Kampf gegen den religiösen Extremismus ist auch in Deutschland noch ein ungelöstes Problem. Kritik an problematischen Inhalten wird schnell mit einer pauschalen Fremdenfeindlichkeit verwechselt. Viele Pädagogen und Politiker schweigen deshalb lieber dazu. Doch wie lassen sich dann konstruktive Konzepte entwickeln, um einer Radikalisierung von jungen Muslimen entgegenzuwirken? Der Psychologe und Soziologe Ahmad Mansour versucht im Interview Antworten auf diese Frage zu geben.

Ein Interview

Ahmad Mansour wuchs in einer arabischen Familie in Israel auf. Seit zehn Jahren lebt der Psychologe und Soziologe in Deutschland und setzt sich in verschiedenen Projekten dafür ein, mehr Bewusstsein für Demokratie, Gleichberechtigung und Menschenrechte innerhalb der muslimischen Gemeinschaft zu erzeugen. Im Gespräch mit unserem Portal erklärt er, warum auch die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland erst gründlich umdenken muss, um sinnvolle Lösungen gegen den wachsenden Islamismus in Deutschland zu entwickeln.

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Herr Mansour, Sie arbeiten mit jungen Männern, die radikale Weltanschauungen vertreten. Was sind das für Jugendliche?

Ahmad Mansour: Dazu müssen wir definieren, was radikal ist. In Deutschland haben wir viel mit dem Thema Salafismus zu tun. Jugendliche, die beispielsweise bereit sind, nach Syrien und in den Irak zu gehen und dort zu kämpfen. Aber das ist für mich nicht allein das Radikale, sondern wir haben es hier mit einer breiten Jugendkultur zu tun. Mit Jugendlichen, die ihre Religiosität so verstehen, dass sie bestimmte Einstellungen, bestimmte Werte, bestimmte Ideologien oder Teilideologien vertreten, die in einer demokratischen Kultur nichts zu suchen haben.

Was sind das für Werte und Einstellungen?

Wenn Jugendliche Andersgläubige abwerten, wenn sie nicht gelernt haben, kritisch zu denken, wenn Jugendliche bestimmte Geschlechterrollen in sich tragen, wenn sie ihre Religion als ausschließliche Ideologie sehen, dann darf das in einer demokratischen Gesellschaft natürlich nicht hingenommen werden. Das bedeutet nicht, dass diese breite Masse an Jugendlichen, die ich "Generation Allah" nenne, vom Verfassungsschutz beobachtet werden muss. Aber das sind Jugendliche, die wir unbedingt erreichen müssen und die wir leider in der aktuellen Debatte vergessen haben, weil wir nur über diejenigen reden, die nach Syrien und in den Irak gehen.

Kommen problematische Anschauungen unter jungen Muslimen in Deutschland häufiger vor als in den Generationen davor?


Ich glaube, dass die jungen Muslime bewusster sind als ihre Eltern. Sie sprechen die Sprache besser, sie fühlen sich als Teil dieser Gesellschaft und haben deswegen weniger Hemmungen auszusprechen, was die Generation vor ihnen vielleicht auch schon gedacht, aber sich nicht getraut hat, laut zu sagen. Das ist ein Aspekt. Die Religion ist aber auch insgesamt wichtiger geworden – nicht nur bei Muslimen. Jugendlichen, die sich in einer pluralistischen Gesellschaft überfordert fühlen, werden in der Religion klare Werte vermittelt. Sie bekommen ein einfaches Weltbild, das sie leichter verstehen können. Sie bekommen dadurch Orientierung und Halt.

Woran liegt es, dass der Islamismus weltweit zunimmt und unter vielen Muslimen offenbar ein nationenübergreifendes Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugt?

Viele Konflikte in der Welt wurden islamisiert. Der Nahostkonflikt war eine territoriale, nationale Angelegenheit zwischen arabischen Ländern und Israel. Heute redet man von Palästina als einer globalen islamischen Angelegenheit. Das sieht man zum Beispiel daran, dass der Konflikt inzwischen auch eine Rolle in der Beziehung zwischen Israel und der Türkei spielt, was vor 15 oder 20 Jahren überhaupt nicht der Fall war.

Warum sind die verschiedenen Gruppen damit erfolgreich, diese Themen zu islamisieren?

Sie füllen damit eine Lücke, nachdem der Nationalismus besonders in den arabischen Ländern versagt hat. Er konnte keine Antwort auf die wirtschaftlichen Fragen oder auf die Fragen der Sicherheit geben. Und die Islamisten haben dieses Versagen ausgenutzt, um den Islam als politische Macht zu etablieren. Das hat damals mit den Muslimbrüdern angefangen, das macht Erdogan heute genauso. Dadurch haben sie eine weltweite islamische Identität geschaffen. Und die ist natürlich für die Jugendlichen viel attraktiver. Da ist man nicht ein Türke, Albaner oder Tschetschene, sondern man ist ein Muslim. Das ist eine viel größere und stärkere Gruppe als ein kleiner Nationalstaat.

Wer definiert die Werte dieser neuen globalen muslimischen Identität?


Die "Generation Allah" hat ihre Einstellungen und Werte von ihren Eltern übernommen und einfach nur strenger interpretiert. Aber sie haben nicht unbedingt tiefergehendes Wissen über ihre Religion als ihre Eltern. Und natürlich schafft das Unwissen Manipulations- und Instrumentalisierungsmacht. Die Salafisten haben einen riesigen Erfolg, weil sie den Unwissenden Scheinwissen vermitteln und sagen, was der Islam angeblich sei und wie man diese Identität zu leben habe. Auf der anderen Seite nutzen manche muslimische Verbände diese Werte, um eine politische Macht daraus zu machen.

Welche Rolle spielen die Islamverbände in Deutschland?

Ich möchte nicht verallgemeinern, aber sehr wohl sagen, dass die islamischen Verbände Inhalte vermitteln, die ich für problematisch halte. Wenn wir beispielsweise die Salafisten mit Recht kritisieren, dann kritisieren wir die Inhalte, die sie vermitteln. Sie verbreiten ein problematisches Gottesbild. Und dieses Gottesbild ist genau so bei den meisten Islamverbänden vorhanden. Deshalb finde ich nicht, dass sich die meisten Verbände qualitativ und inhaltlich von den Salafisten unterscheiden. Natürlich lehnen die Verbände Gewalt ab. Aber ihr Islamverständnis halte ich für problematisch.

Wie sieht dieses problematische Gottesbild aus?

Es ist geprägt von Angstpädagogik. Es wird ein Gottesbild vermittelt, wo Gott bestraft, wo Gott mit der Hölle droht. Er lässt nicht mit sich diskutieren, er ist zornig. Damit verbunden sind Inhalte wie Geschlechtertrennung, Tabuisierung der Sexualität, Exklusivitätsanspruch – das heißt, sie haben die wahre Religion, alle anderen liegen falsch. Das sind Inhalte, die von den Salafisten überspitzt und radikalisiert dargestellt werden. Aber die Basis davon ist auch im Islamverständnis solcher Verbände vorhanden.


Was ist der Unterschied zwischen einem Salafisten und einem durchschnittlichen Muslim in Deutschland?

Muslime, die Ihre Religion als private Angelegenheit verstehen, die mit ihrer Religion ganz andere Inhalte verbinden, haben mit Salafisten nicht viel gemeinsam, aber bei Angehörigen der "Generation Allah" liegen die Unterschiede mehr in der Intensität der Inhalte. Die Salafisten haben nichts Neues erfunden. Die Angstpädagogik, die Beharrung auf der Opferrolle, die Feindbilder sind auch im Mainstream-Islamverständnis vorhanden. Salafisten stellen sie nur überspitzt dar. Und es geht mir nicht um Gewalt. Natürlich ist die Mehrheit der Muslime nicht gewalttätig. Das ist bei manchen Salafisten ganz anders. Aber wenn es um die Islam-Interpretation geht, dann sind die problematischen Inhalte weiter verbreitet, als man denken mag.

Was sind das für Feindbilder, die Sie angesprochen haben?

Die Juden, der Westen, die Demokratie. Und die neue Generation arbeitet viel mit Verschwörungstheorien. Das können Sie bei Facebook beobachten. Dort kursieren die ganzen Theorien, die behaupten, es seien die Juden, die die Welt beherrschen, die eigentlich verantwortlich sind für die Konflikte überall in der Welt. Sie sind angeblich sogar verantwortlich für den Islamischen Staat oder für das Attentat in Paris. Das ist der Versuch, ein klares Feindbild zu schaffen, wo die Verantwortung nicht bei uns liegt, sondern wo die Juden, der Westen, die Demokratie, unklare Mächte verantwortlich für alles sind.


Warum haben manche Jugendliche solche Feindbilder nötig?

Erst mal ist es verankert in der Kultur. Deshalb kommen diese Verschwörungstheorien an. Zweitens bedienen sie den Antisemitismus, der auch tief verankert ist. Und drittens, weil es viel einfacher ist, die Welt dadurch zu verstehen, als dieser unfassbar komplizierten Politik hinterherzukommen.

Warum gibt es so wenige Ansätze, um dem Antisemitismus unter Muslimen entgegenzuwirken?

Es ist auch ein Tabuthema geworden, bei dem man sich nur die Finger verbrennen kann, wenn man sich damit auseinandersetzt. Viele Politiker und die Mehrheitsgesellschaft trauen sich nicht mehr, solche Probleme anzusprechen. Wenn wir problematische Inhalte nicht mitten in der Gesellschaft diskutieren, dann werden sie undifferenziert von Rechtsradikalen besetzt, um Vorurteile und pauschale Einstellungen zu bedienen. Antisemitismus ist immer noch ein Herkunft übergreifendes Phänomen. Man findet ihn rechts und links und in der Mitte der Gesellschaft. Und der muslimische Antisemitismus gehört dazu. Momentan diskutieren wir sehr ausführlich über den Holocaust und das Dritte Reich - und Ali und Ahmad sitzen da und sagen: "Was hat das mit mir zu tun?" So erreichen wir diese Jugendlichen mit unseren pädagogischen Konzepten gar nicht. Dann ist es kein Wunder, dass diese antisemitischen Bilder weitertransportiert werden.

Was muss in der deutschen Gesellschaft passieren, um dem Islamismus Herr zu werden?

Es muss viel passieren. Es muss zuerst ein Umdenken stattfinden. Wer heute noch in Kategorien von "ihr und wir" denkt, steckt nur den Kopf in den Sand. Muslimische Jugendliche mit problematischen Anschauungen sind Teil dieser Gesellschaft und ihre Probleme sind auch die Probleme dieser Gesellschaft. Nur wenn wir das akzeptieren, werden wir fähig, neue pädagogische Konzepte zu entwickeln, um diese Jugendlichen zu erreichen, um ihnen Alternativen anzubieten, um mit ihnen über Themen zu diskutieren, die sie von zu Hause mitbringen. Diese Themen sind da, aber finden in den Schulen kaum Platz, weil die Lehrer nicht in der Lage sind, sie anzusprechen. Und wir müssen zu allererst unsere Naivität aufgeben. Mit reinem Aktionismus und mit irgendwelchen Vorsichtsmaßnahmen werden wir nichts erreichen. Sondern wir müssen unbedingt in der Lage sein, solche Probleme differenziert und mutig anzusprechen und vor allem Lösungen zu finden, die diese Jugendlichen erreichen.


Haben wir auf der politischen Ebene die notwendigen Voraussetzungen dafür?

Leider hat die Politik in Deutschland bewusst entschieden, kritische Stimmen von der Islamkonferenz auszuladen und ausschließlich mit den Verbänden zu sprechen, die teilweise vom Ausland gesteuert sind. Personen, die hierzulande mit dem Thema arbeiten, nehmen daran nicht mehr Teil. Bei der Islamkonferenz werden aber in den nächsten Jahren große Entscheidungen getroffen, was beispielsweise den Islamunterricht angeht. Dabei reden nur Verbände mit. Und die haben immer wieder ganz klar durch ihr Verhalten gezeigt, dass sie nicht immer hinter unseren Werten stehen – das finde ich hochproblematisch.

Ahmad Mansour arbeitet als freier Autor, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Gesellschaft Demokratische Kultur (ZDK), Gruppenleiter beim HEROES-Projekt in Berlin sowie Programme Director bei der European Foundation for Democracy in Brüssel. Sein Buch "Generation Allah - Wieso wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen" ist im Oktober im Fischerverlag erschienen.
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