Viele Szenarien hat man im Hinblick auf Griechenland schon durchgespielt. Doch eine Szenario rückt nun in gefährliche Nähe: der Grexit, also der Ausstieg der Hellenen aus der Eurozone.
Nach der plötzlichen Abreise der Delegation des Internationalen Währungsfonds (IWF), scheint eine Einigung in letzter Minute zur Rettung des von der Staatspleite bedrohten Griechenlands immer unwahrscheinlicher. Denn die kann nur noch gelingen, wenn alle Seiten bis zum 18. Juni, wenn die Finanzminister der Eurogruppe in Brüssel tagen, zu einem Kompromiss finden. Daran glauben inzwischen aber immer weniger. Selbst die Bundesregierung trifft offenbar Vorbereitungen für die Folgen eines Grexit.
Denn sollte bis nächste Woche keine Lösung auf dem Tisch liegen, steuert Griechenland fast unaufhaltsam auf den Staatsbankrott zu. Schon seit Februar akzeptiert die Europäische Zentralbank (EZB) keine hellenischen Staatsanleihen als Sicherheiten mehr, die griechischen Banken werden bisher nur noch über den Notfallmechanismus ELA über Wasser gehalten. Doch wenn ein erfolgreicher Abschluss des zweiten Hilfsprogramms, aus dem die Geldgeber der Institutionen (also EU-Kommission, EZB und IWF) immer noch die letzte Tranche über 7,2 Milliarden Euro zurückhalten, nicht mehr möglich ist, müsste die Zentralbank auch dieses letzte Hilfsmittel über kurz oder lang einstellen. Schon jetzt hat das Frankfurter Geldinstitut den Maximalrahmen von 60 Milliarden Euro im Fall von Griechenland auf 80 aufgestockt – in der Hoffnung, man würde noch zu einer Einigung kommen.
Wenn Hellas zahlungsunfähig wird, würde auch dieser letzte Notanker den griechischen Banken wegfallen. Diese haben sich bislang größtenteils über Anleihen finanziert. Ohne die EZB hätten sie keine Möglichkeit mehr, an Geld zu kommen. Die Folge wäre ein regelrechtes Ausbluten, denn viele Hellenen würden versuchen, ihr verbleibendes Geld abzuheben und ins Ausland zu schaffen. "Sie würden mit an 100 Prozent grenzender Wahrscheinlichkeit zahlungsunfähig werden", meint Politikwissenschaftler Sebastian Dullien vom European Council on Foreign Relations (ecfr). Die Folge: Die Regierung wäre gezwungen, die Banken tagelang zu schließen, um Abhebungen und Kapitalflucht zu stoppen. Der Zahlungsverkehr käme völlig zum Erliegen.
Drachme wäre zum Scheitern verurteilt
Griechenland hätte dann wohl keine Wahl mehr, als selbst den gefürchteten Grexit einzuleiten. "Die Regierung würde das aktiv machen, also eine neue Währung einführen", glaubt der Experte. "Man würde einfach Fakten schaffen", für die es aber keine legale Grundlage gibt. Denn das EU-Recht sieht keinen Ausstieg aus dem Euro vor, lediglich ein Austritt aus der Europäischen Union als Ganzes ist möglich, wenn alle Mitglieder zustimmen. "Das will aber niemand", ist sich Dullien sicher.
Denn dafür sei Griechenland geopolitisch viel zu wichtig für die Europäische Gemeinschaft – als Nachbarland der Türkei, mit Hinblick auf die Russlandsanktionen und seiner Logistik über die zahlreichen Redereien. Stattdessen geht der Politikwissenschaftler davon aus, dass im Falle eines Grexits die EU-Juristen eine Lösung finden würden, die Griechenland die Wiedereinführung der Drachme erlaubt, ohne aus der Union austreten zu müssen. Aus seiner Sicht ist die Wahrscheinlichkeit eines griechischen Ausstiegs aus der Währungsgemeinschaft inzwischen größer als die einer Kompromisslösung.
Diese Auffassung will Pawel Tokarski von der Stiftung Wissenschaft und Politik nicht teilen: "Es ist schwer zu glauben, dass sich die Regierung für ein Grexit entgegen der mehrheitlichen Meinung der Bevölkerung entscheiden wird." Die Wiedereinführung der Drachme wäre zum Misserfolg verdammt, weil die Bevölkerung kein Vertrauen mehr zu ihr habe. Die Drachme könnte nach Auffassung von Tokarski sofort 40 bis 60 Prozent ihres Wertes verlieren, die ohnehin geschwächte Kaufkraft der Griechen würde noch weiter vermindert.
Inflation wird befürchtet
Folglich müsste man für das Land wieder Kapitalkontrollen einführen und Hellas zwischenzeitlich aus dem Schengenraum ausschließen. Mit der wertlosen Drachme würden nicht nur Importe wie Medikamente und Energie astronomisch teuer für die Griechen. Kleine und mittelständische Unternehmen, die immer noch einen Großteil der hellenischen Produktion bestreiten, würden an ihren Schulden in Euro zugrunde gehen. Um die Ärmsten der Bevölkerung zu schützen, würde die Regierung wohl versuchen, die Löhne und Renten wieder zu erhöhen und zusätzliches Geld drucken, fürchtet Tokarski. "Die Inflation würde schnell in den zweistelligen Bereich schießen."
Soziale Unruhen wären die Folge, der letzte halbwegs funktionierende Wirtschaftszweig – der Tourismus – würde unter der Instabilität einbrechen. Die Regierung unter Alexis Tsipras könnte sich unter diesen Bedingungen wohl bestenfalls wenige Monate halten. Die wenigen verbliebenen ausländischen Investoren würden endgültig ihre Gelder abziehen – und auch der übrige Teil der Eurozone würde erschüttert, weil man Milliardenbeträge abschreiben müsste. Allein Deutschland müsste mit Verlusten von bis zu 80 Milliarden Euro rechnen.
Mit dem Ausstieg Griechenlands könnte es auch zu Kapitalflüssen in anderen südeuropäischen Ländern kommen, meint Politikwissenschaftler Dullien. "Insbesondere, wenn euroskeptische Parteien wie in Spanien Podemos in Regierungsnähe kämen", fürchtet er. Eine Situation, aus der heraus aber auch etwas Neues entstehen könnte: "Wenn man das Runterbrechen der Eurozone verhindern will, könnten die Regierungen Vorschläge zu einer weiteren Fiskalunion einbringen", meint Dullien. Mit anderen Worten eine noch engere Eurozone gründen – etwa mit einem europäischen Finanzminister, der in die nationalen Ministerien eingreifen dürfte, einer europäischen Arbeitslosenversicherung, beschränkten Eurobonds mit gemeinsamer Haftung für einen Teil der Schulden der einzelnen Mitgliedsstaaten. Dafür bräuchte es aber eine Vertragsänderung – denn bislang dürfen EU-Staaten nicht für die Schulden anderer Mitglieder haften.
Noch bleiben Griechenland wenige Tage Zeit, die "Bedingungen zu akzeptieren, ein Disaster für Griechenland und eine Gefahr für die Eurozone zu vermeiden", meint Tokarski. Er hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben: "Ich glaube immer noch, dass es zu einer Einigung in letzter Minute kommen wird."
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