Der tragische Tod von David Poisson hat eine neue Sicherheitsdebatte im alpinen Skisport entfacht. Mit der Gier nach Geschwindigkeit und Spektakel werden die Vorkehrungen aber wohl nie ganz mithalten können. So fährt die Gefahr immer mit.

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Nakiska reiht sich ein in die Liste der unheilvollen Orte des alpinen Skisports. David Poisson ist in dem kleinen Ort in der Nähe von Calgary in Kanada vor einigen Tagen auf der Piste gestorben, ein Trainingsunfall, wie er immer mal passieren kann. Eine besonders lange Verkettung unglücklicher Umstände wurden dem erst 35-jährigen Franzosen zum Verhängnis.

Poisson ist bereits der 31. Todesfall in der Geschichte des alpinen Skisports auf Leistungsniveau. 1938 war der Italiener Giacinto Sertorelli auf der Kandahar-Abfahrt in Garmisch-Partenkirchen der erste Profi, der seine Leidenschaft und seinen Beruf mit dem Leben bezahlen musste.

Seitdem gab es immer wieder Opfer zu beklagen, ganz schlimm etwa in den 70er Jahren, als das Material immer besser und der Ski immer schneller wurde, die Sicherheitsvorkehrungen aber noch auf dem Stand der Vorkriegszeit waren.

Schutzausrüstung verbessert

Mittlerweile hat sich in diesem Bereich durchaus einiges getan. Die Sportler selbst nutzen Carbonpanzer zum Schutz der Wirbelsäule, das Reglement lässt eine 4,5 Zentimeter dicke Isolierung zu.

Ansonsten wird im Rausch der Geschwindigkeit aber auf jede Hundertstelsekunde geachtet, die wichtig sein könnte. Also bleibt als Aufprallschutz in den meisten Fällen nicht mehr als ein dünner Fetzen Stoff, der sich um die Muskeln und Gelenke der Athleten schmiegt.

Modelle zur weiteren Verbesserung der Sicherheit am Läufer selbst gibt es genügend: Dünne, in den Anzug eingewebte Carbonschienen, widerstandsfähigere Helme, Airbagsysteme zum Schutz des Brustbereichs, "intelligente" Bindungen, die den Ski bei einem Sturz rechtzeitig vom Bein befreien.

Das kann helfen. Es kann aber - wie in Poissons Fall, der ebenfalls einen Ski und damit die Kontrolle über seinen Körper verlor - auch tragisch enden.

Wer von Null auf 100 km/h in sechs Sekunden beschleunigt und sich mit 140 km/h wie auf der Streif in Kitzbühel oder sogar 160 km/h auf der Saslong in Gröden ins Tal stürzt, der kennt die Gefahren - zumal auf einem völlig vereisten Hang mit mehr als 60 Prozent Gefälle.

Der spielt das Spiel mit, welches die Veranstalter spielen und das der Zuschauer sich offenbar wünscht. Es kann nicht spektakulär genug sein.

Immense Fliehkräfte wirken

Als Abfahrtsolympiasieger Matthias Mayer vor fast drei Jahren bei der Abfahrt von Gröden stürzte, wirkten auf den Österreicher für kurze Zeit Fliehkräfte von 13G ein. Das hatte eine Untersuchung später ergeben. Mayer war zum Zeitpunkt des Sturzes dabei sogar "nur" 109 km/h schnell.

Die Maß-Einheit G bezeichnet die Beschleunigung eines frei fallenden Körpers durch die Erdanziehung. Bei längerer Belastung von rund 4G schießt das Blut dem Menschen so stark in die Extremitäten, dass er Arme und Beine nicht mehr bewegen kann. Bei 6G wird man ohnmächtig.

An den Gesetzen der Physik kann man nur schwerlich etwas ändern. Der Siegeszug der Carving-Ski führte zu noch rasanteren Fahrstilen nicht nur der Weltklassefahrer.

Also müssen die Sicherheitsvorkehrungen um den Läufer herum permanent verbessert und den Höchstleistungen von Athlet und Material angepasst werden. Beim Skiweltverband FIS sind die Rennen in den Speed-Disziplinen Abfahrt und Super G mit so genannten A-Netzen gesichert.

In der Regel stehen ein B-Netz und zwei A-Netze hintereinander, die selbst einen ungezügelten Aufprall des Athleten mit über 100 km/h abbremsen sollen. A-Netze sind auf einem Betonsockel fest installierte Fangnetze, die tief im Schnee beziehungsweise dem darunter liegenden Eis verankert sind.

B-Netze sind mobile Netze, die davor gespannt werden, um die erste Energie aus dem Aufprall und damit die Geschwindigkeit des fliegenden Körpers zu nehmen.

Die Rennen sind bestens gesichert - die Trainings nicht

Das Problem: Nur wenige Trainingstrecken verfügen flächendeckend über A-Netze. In Poissons Fall standen in Nakiska nur B-Netze, durch die der Franzose förmlich schoss, ehe er gegen einen Baum prallte und noch am Unfallort verstarb. A-Netze benötigen zur festen Installation auch deutlich mehr Platz.

Den gibt nicht jede Piste her. Nicht selten wird wohl auch aus Kostengründen gespart. Und die Rennfahrer selbst sind - trotz der immensen Gefahr - auch nicht zwangsläufig immer für A-Netze.

Fahrfehler verzeiht ein auf Grund des Platzmangels dichter an die Piste platziertes A-Netz nicht so oft wie ein weiter entfernt platziertes B-Netz. Die Athleten könnten sich nicht akrobatisch retten und fliegen schneller ab, so zumindest beschreiben es einige Läufer.

In Gröden meckerten Trainer und Läufer vor einigen Jahren, weil ihnen zu viele Netze zu viel Platz neben der Piste nahmen. Der Veranstalter baute die Zäune wieder ab.

"Gefährlicher als die Formel 1"

"Abfahrtsrennen sind gefährlich und riskant. In den letzten Jahren haben wir realisiert, dass sie gefährlicher sind als die Formel 1. Wir zahlen einen hohen Preis", sagte Frankreichs Ski-Präsident Michel Vion nach Poissons Tod.

Es gibt wohl niemanden, der ihm widersprechen würde. Der Athlet ist allein mit ein paar Zentimeter dünnen Brettern und einem hauchzarten Rennanzug den Kräften ausgesetzt. Kein Chassis und kein Hals-Nacken-Protektor können ihn schützen.

Verrückte Hunde seien die Abfahrer, sagt man immer so schön - halb aus Unverständnis, halb aus tiefster Bewunderung. Das Risiko ist immer da, aber es wird nur wenige Läufer vom Start abhalten.

Das Bedürfnis, immer und immer wieder den Rausch der Geschwindigkeit zu erleben, die Bedenken zu vergessen, im Tunnel eine drei Kilometer lange Höllenfahrt hinzulegen: das treibt immer noch viele an.

Und so lange das so bleibt, so lange bleibt der Skirennsport nicht nur eine der spektakulärsten Sportarten der Welt, sondern auch eine der gefährlichsten.

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