Deutschland löst gegen Weißrussland das EM-Ticket. Bundestrainer Joachim Löw ist erleichtert, die Spieler bleiben aber zurückhaltend optimistisch: Die Qualifikation war keine große Kunst - und es gibt noch jede Menge zu tun.

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Das Verhältnis der deutschen Fans zu ihrer Nationalmannschaft bleibt ein schwieriges, das hat das vorletzte Spiel im Rahmen der EM-Qualifikationsrunde mal wieder gezeigt. Im Gladbacher Borussia Park blieb ein gutes Viertel der Plätze leer, der Oberrang der Gegengeraden hätte problemlos komplett geschlossen bleiben können.

Der unattraktive Gegner, die geringe sportliche Brisanz, aber auch das erschütterte Vertrauen in die Mannschaft und den Deutschen Fußball-Bund, sowie Ticketpreise von bis zu 80 Euro und die späte Anstoßzeit ergaben ein wenig erquickliches Gesamtbild im Stadion.

Geisterveranstaltung in Mönchengladbach

Die Partie der deutschen Nationalmannschaft gegen die allenfalls drittklassigen Weißrussen, die sich in der Weltrangliste zwischen Usbekistan und Gabun auf Position 86 einreihen, wurde auch deshalb phasenweise zu einer Art Geisterveranstaltung.

Die rund 100 weißrussischen Fans waren teilweise stimmgewaltiger als die Anhänger der deutschen Nationalmannschaft und wäre die Kapelle nicht gewesen, die sich erstmals zu einem Spiel der Mannschaft eingefunden hatte, wäre die Stimmung eher wie auf einer Bezirkssportanlage geblieben.

Der ganze Abend im Borussia Park roch nach Pflichtveranstaltung und am Ende wurde es das auch: Das 4:0 der deutschen Mannschaft bedeutet gleichzeitig auch die Qualifikation für die EM-Endrunde im kommenden Sommer.

Das ist der kleinste gemeinsame Nenner, in einer Qualifikationsrunde scheiterte Deutschland erst ein einziges Mal: vor 52 Jahren. "Es war unser großes Ziel, heute schon die Qualifikation klar zu machen. Es freut uns, dass wir im nächsten Jahr bei dem großen Turnier dabei sind“, sagte Innenverteidiger Matthias Ginter nach dem Spiel bei RTL.

Ginter öffnete kurz vor der Pause die bis dato eher zähe Partie für die deutsche Mannschaft mit seinem ersten Länderspieltor überhaupt. Nach dem Wechsel schraubten Leon Goretzka und zwei Mal Toni Kroos das Ergebnis auf ein standesgemäßes Maß.

"Wir haben unser Ziel erreicht. Die Mannschaft hat gut gespielt. Wir haben einige gute Kombinationen gezeigt und vier Tore erzielt. Sicher war nicht alles perfekt, aber unter dem Strich bin ich sehr zufrieden“, sagte Joachim Löw.

Chance auf Lostopf eins

Der Bundestrainer war nach zuletzt etwas holprigen Monaten sichtlich erleichtert darüber, dass seine Mannschaft am kommenden Dienstag gegen Nordirland ein mögliches "Endspiel“ vermied.

Nach der Partie gegen die Nordiren, die durch das Remis gegen die Niederlande keine Chance mehr auf einen der beiden ersten Plätze haben, folgen im kommenden Frühjahr nur noch zwei Testspiele gegen vermutlich hochkarätige Gegner, die zur Vorbereitung auf das Endturnier dienen können.

Insofern hat das Spiel am Dienstag in Frankfurt nicht nur einen finalen Charakter im Rahmen der Qualifikationsphase, sondern ist auch der Auftakt in die Vorbereitung auf die EM. "Im Moment weiß ich noch nicht, wie die Aufstellung aussehen wird. Es kann aber durchaus sein, dass ein paar Spieler ihre Chancen bekommen werden“, kündigte Löw deshalb das eine oder andere personelle Experiment an.

Nach der Nullnummer des Rivalen Niederlande in Belfast ist Deutschland jetzt doch wieder Gruppenerster, es winkt der Sieg in der Qualifikationsrunde und damit Lostopf eins, wenn in ein paar Wochen die Gruppen für die EM ausgelost werden.

"Wir sind jetzt Tabellenführer und wollen das auch nach dem letzten Spiel natürlich bleiben“, sagte Löw. Das ist eine bekannte und für einen Bundestrainer adäquate Zielsetzung, wenngleich die nur für das Vorspiel vor dem großen Turnier gilt.

In den Tagen vor dem Weißrussland-Spiel hat Löw ja aufhorchen lassen mit ungewohnt devoten Worten. Deutschland sei im Sommer kein Topfavorit auf den Titel, andere Nationen wären da schon eher zu nennen.

Kroos: Zählen nicht zu absoluten Favoriten

Das widerspricht dem fundamentalen Grundsatz des deutschen Fußballs, immer spitze und erfolgreich sein zu wollen. Aber andererseits ist es wohl auch eine realistische Zustandsbeschreibung der aktuellen Kräfteverhältnisse im europäischen Fußball.

Nationen wie Frankreich, England, Spanien, Italien, Belgien oder die Niederlande sind einen, vielleicht sogar zwei Schritte weiter und eingespielter als die deutsche Mannschaft, die am Samstagabend unter anderem mit einer neuen Abwehr antrat, deren Glieder Lukas Klostermann, Robin Koch, Nico Schulz und eben Ginter waren.

Für die Weißrussen ist diese Besetzung allemal gut genug - die Großkaliber dürften, bei allem Respekt, von diesen Spielern aber nicht besonders zu beeindrucken sein.

Deutschland befindet sich mittendrin im Umbruch, der zudem noch torpediert wird von einer allgemein drückenden Stimmung rund um die Nationalmannschaft und einigen verletzten Spielern, die in Löws Konzept eine gewichtige Rolle spielen. Deshalb bleiben die meisten Spieler auch entweder vage oder gleich offen pessimistisch, was die Chancen für das Turnier angeht.

"Wie weit wir dann sind, wird man kurz vor dem Turnier sehen. Wichtig werden nach dem letzten Gruppenspiel die zwei Freundschaftsspiele im März. Das sind die letzten beiden Spiele, bevor es in Richtung Turnier geht. Dann kann man sicher mehr sagen. Aber aktuell sehe nicht wirklich, dass wir zu den absoluten Favoriten gehören“, sagte Kroos.

"Wir haben nur noch sehr wenige Spiele bis zum EM-Turnier. Wir müssen uns noch weiterentwickeln und sind noch lange nicht da, wo wir hinwollen. Daher werden wir das Spiel am Dienstag auch dringend benötigen, um uns weiterzuentwickeln“, meinte Goretzka.

Nur ein Etappenziel

Es bleibt die vorsichtige Hoffnung auf die rechtzeitige Rückkehr der Verletzten und dass Löw es gelingt, mit seinen Vorstellungen bis zum Mai die Mannschaft zu durchdringen. Eine günstige Auslosung könnte ebenfalls nicht schaden.

Aber realistisch betrachtet spielt Deutschland derzeit nur in der zweiten Reihe. Diesen Zyklus einer schwächeren Phase haben auch die anderen Top-Nationen durchschreiten müssen, einige von ihnen haben dabei auch große Turniere verpasst. Diesen GAU hat die deutsche Mannschaft vermieden.

Aber eine Qualifikation für ein auf 24 Mannschaften aufgeblähtes Turnier ist bei lediglich 55 gemeldeten Teilnehmern auch keine große Kunst für eine Fußball-Nation wie Deutschland - auch wenn diese sich im Wandel befindet.

Das Erreichen der Endrunde ist ein Etappenziel, das wohl in einem größeren Kontext gesehen werden muss: Nicht nur im Hinblick auf einen möglichen, aber eher unrealistischen Triumph bei der EM, sondern auch als Zwischenstation für die Gesamtentwicklung der Mannschaft.

Nur bei einem großen Turnier können die Spieler reifen und wachsen und als Team besser zusammenfinden. Das eigentliche Ziel bleiben die Turniere nach der EM. So ehrlich muss auch der erfolgsverwöhnte deutsche Fußball zu sich selbst sein.

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