Gewalt in der häuslichen Pflege ist kein seltenes Phänomen: In einer Studie gaben 40 Prozent der Befragten an, dass sie sich schon einmal absichtlich gewaltsam gegenüber einem Pflegebedürftigen verhalten hätten. Ein Projekt will nun Lösungen erarbeiten.
Schimpfen, den Gehstock wegnehmen oder jemanden festbinden: Gewalt ist in der häuslichen Pflege kein seltenes Phänomen. Überwiegend werden Pflegebedürftige zu Hause durch Angehörige versorgt und in den meisten Fällen ohne die Unterstützung durch einen Pflegedienst. Es kann anstrengend sein, eine solche Aufgabe zu übernehmen und das kann zu Überforderung und Gewalt führen.
In einer stressigen Pflegesituation können Ärger und Wut entstehen
Kommen zum Beispiel alte und neue Konflikte in der Beziehung zwischen einem pflegebedürftigen Menschen und einem pflegenden Angehörigen zusammen, ist es besonders wichtig, Gewalt vorzubeugen.
"Ärger und Wut sind Gefühle, die gerade in einer stressigen Pflegesituation leicht entstehen können. Es ist darum wichtig zu lernen, wie man mit seiner Wut umgehen kann und die Kontrolle nicht verliert", sagt Dr. Ralf Suhr, Vorstandsvorsitzender des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) in Berlin.
Um einer Überlastung vorzubeugen, sei es für pflegende Angehörige wichtig, möglichst früh zu erfahren, wie sie sich entlasten können. Eine wichtige Rolle spielten dabei die rechtlich verankerten Ansprüche auf kostenlose Pflegeberatung, Schulung und Anleitung zur Pflege.
Es kommen körperliche und psychische Gewalt vor
Welche Art von Gewalt kommt in der häuslichen Pflege überhaupt vor? Und wie häufig ist sie? Dazu hat das ZQP geforscht und im Juni 2018 eine Studie herausgegeben.
"Man unterscheidet zunächst grob zwischen physischer und psychischer Gewalt", sagt Suhr. Schwere Gewalttaten sind nach heutigem Wissensstand eher die Ausnahme. Deutlich häufiger ist respektloses Verhalten, bei dem Pflegebedürftige beschimpft, angeschrien oder beleidigt werden. Auch Bevormundung kommt vor, wenn Pflegende zum Beispiel ihre Angehörigen zum Essen zwingen.
Zu den Formen zählt weiterhin, Hilfe vorzuenthalten, also jemandem zum Beispiel bewusst nicht beim Aufstehen zu helfen oder auch absichtlich mit zu heißem oder kaltem Wasser zu waschen. Manchmal werden Pflegebedürftige gegen den Willen in ihrer Freiheit eingeschränkt und zum Beispiel eingesperrt oder sie bekommen Medikamente, damit sie ruhig sind.
Die Dunkelziffer ist höher als die offiziellen Zahlen
Es ist schwierig, die Häufigkeit von Gewalt in der Pflege zu erforschen. "Es kommt vor, dass aus Angst oder Scham nicht über Vorfälle gesprochen wird", sagt Suhr. "Man muss deshalb damit rechnen, dass die tatsächlichen Zahlen höher sind als in unserer Analyse."
Das ZQP befragte über 1.000 pflegende Angehörige für die Studie. 40 Prozent der Befragten gaben an, dass sie sich innerhalb der letzten sechs Monate mindestens einmal absichtlich gewalttätig gegenüber einem Pflegebedürftigen verhalten hätten. Von 32 Prozent - und damit am häufigsten - wurde über Formen psychischer Gewalt berichtet.
Pflege ist für Angehörige oft sehr belastend
Zwölf Prozent gaben an, körperliche Gewalt ausgeübt zu haben, also zum Beispiel absichtlich grob angefasst oder Zwang beim Essen angewendet zu haben. Elf Prozent berichteten von Vernachlässigung und sechs Prozent nannten freiheitsentziehende Maßnahmen.
Die Studie bestätigt auch, dass Pflege für die Angehörigen sehr belastend sein kann: Über ein Drittel der Befragten gaben an, sich häufig niedergeschlagen zu fühlen.
Zudem sind auch viele Pflegende offenbar von Gewalt oder entsprechendem krankheitsbedingten Verhalten der pflegebedürftigen Person betroffen: 47 Prozent gaben an, in den letzten sechs Monaten so etwas erlebt zu haben.
"Oft führt eine Summe verschiedener Faktoren zu Gewalt", sagt Suhr. "Neben Stress können auch bestimmte Erkrankungen, Vereinsamung, beengte Wohnverhältnisse und finanzielle Probleme dazu beitragen, dass es zu Gewalt kommt."
Ein Projekt im Landkreis Tuttlingen will Gewalt in der Pflege vorbeugen
Wie lässt sich dem vorbeugen? Damit befasst sich unter anderem das Projekt "Erwachsenenschutz im Landkreis Tuttlingen", das seit 2018 läuft. Es wird vom Sozialministerium über drei Jahre mit 110.000 Euro gefördert. Beteiligt sind aktuell rund 40 Personen.
Die Idee zu dem Projekt kam Marianne Thoma von der Fachstelle für Pflege und Senioren des Landkreises Tuttlingen. Sie erhielt immer häufiger Anrufe, bei denen es um Gewalt in der Pflege ging.
In Tuttlingen geht es aktuell darum, Abläufe und Strukturen zu vereinfachen. "Gewalt in der Pflege geschieht oft im Verborgenen", sagt Hauser. In einigen Fällen sei den Pflegenden nicht einmal bewusst, dass ihr Verhalten gewaltsam ist.
"Vielleicht erscheint es normal, die Wohnung des Pflegebedürftigen abzuschließen, während man einkaufen geht", sagt er. Dagegen helfe eine bessere Information - beispielsweise über ehrenamtliche Besuchsdienste, die den Pflegebedürftigen in dieser Zeit betreuen können.
"Wenn einem Nachbarn oder dem Hausarzt etwas auffällt, weiß er oft gar nicht, an wen er sich wenden kann", sagt Marianne Thoma, die gemeinsam mit Wolfgang Hauser das Projekt leitet. "Uns schwebt deshalb eine zentrale Anlaufstelle vor."
Die Beteiligten arbeiten dazu aktuell eng mit Krankenkassen, Pflegediensten und der Polizei zusammen. Die Hoffnung: "Wenn das Projekt erfolgreich ist, könnte man es auf weitere Landkreise ausweiten."
Hilfe und Praxistipps bekommen pflegende Angehörige zum Beispiel beim ZQP. Das ZQP bietet auch den Ratgeber "Gewalt vorbeugen" an, den man kostenlos bestellen kann.
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Dr. Ralf Suhr, Vorstandsvorsitzender des Zentrums für Qualität in der Pflege in Berlin
- Gespräch mit Wolfgang Hauser, Projektleiter von "Erwachsenschutz im Landkreis Tuttlingen"
- Simon Eggert, Dr. Patrick Schnapp, Daniela Sulmann: ZQP-Analyse: Aggression und Gewalt in der informellen Pflege. Quantitative Bevölkerungsbefragung pflegender Angehöriger. Juni 2018.
- Zentrum für Qualität in der Pflege: Gewaltprävention in der Pflege
- Zentrum für Qualität in der Pflege: Wie kann ich freiheitsentziehende Maßnahmen vermeiden?
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