Seit vergangenem Freitag gehen die Menschen in der Türkei aus Protest auf die Straße. Doch was wollen die Demonstranten? Was erleben sie in den Zusammenstößen mit der Polizei? Und wie geht es weiter? Wir haben mit einem Aktivisten gesprochen.
Can K. (Name von der Redaktion geändert) ist nach eigenen Angaben ein junger Webdesigner aus der Hauptstadt Ankara und hat sich für die Proteste sogar eine Woche frei genommen. Seit Beginn des Aufstandes versucht er - wie viele andere Demonstranten - sich im Internet und über soziale Netzwerke über den Verlauf zu informieren. Die Protestierenden teilen ihre Erlebnisse und Ansichten über Facebook und Twitter mit und laden Fotos bei Plattformen wie Tumblr hoch. Auch Can K. hält die Ereignisse auf verschiedenen Kanälen fest. Zusammen mit einem Freund arbeitet er an einer App, die bei den Protesten helfen soll. Er geht fast jeden Tag zu den Protesten in seiner Stadt. In unserem Interview schildert er seine Eindrücke von den Demonstrationen, persönliche Erlebnisse und seine Einschätzung der Lage im Land.
Was denkst du über die Proteste derzeit? Haben sie sich in den letzten Tagen verändert?
Can K.: Ich wollte eigentlich sagen, dass die Dinge begonnen haben, sich zu beruhigen. Aber mich hat nur vor ein paar Stunden eine Ladung Tränengas erwischt. Das war ein ziemlicher Schock. Es war der Geburtstag meiner Verlobten und wir wollten uns mit einigen Freunden in Tunali treffen und etwas essen gehen. Später wollten wir dann noch auf die Demo. Am Dienstag war es recht friedlich, also dachten wir, dass es ruhig bleiben würde. Außerdem war "Kandil", ein muslimischer Feiertag. Deswegen war es ziemlich unerwartet, mit einem Kuchen in der Hand Tränengas abzubekommen.
Hast du eine Erklärung dafür, warum du das Tränengas abbekommen hast?
Can K.: Nein, wir waren nicht mal in einer Menschenmenge. Offenbar ist ein Polizei-Fahrzeug in den Kugulu Park gerollt, Sekunden bevor wir den Rand des Parks erreicht haben. Sie haben Tränengas auf die Menge am anderen Ende des Parks geschossen und haben damit weitergemacht, als sie nach Kizilay zurückgekehrt sind. Dabei haben wir auch das Gas abgekriegt.
Die Proteste haben mit einer Demo für einen Park und gegen einige Bauprojekte in Istanbul angefangen. Gibt es jetzt einige gemeinsame Forderungen der Protestierenden?
Can K.: An diesem Mittwoch hat sich der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arınç mit einer Gruppe von Protestierenden getroffen, die einige Forderungen aufgestellt haben. Persönlich bin ich mit denen aber nicht zufrieden. Diese Bewegung wird eben nicht von einer bestimmten Person oder Gruppe organisiert. Alle sind dort draußen, weil sie sich auf irgendeine Weise unterdrückt fühlen. Die Proteste sind gegen die Unterdrückung, die zu einer Tyrannei führt. Wir haben ein aktuelles Beispiel, wie eine islamische Diktatur aussieht, direkt vor unserer Haustür. Erdogans Handeln und Äußerungen und damit auch das der AKP gleichen diesem Beispiel für viele Menschen.
"Erdogans Verhalten ist seit den Wahlen 2011 dreister geworden"
Hast du dieses Gefühl schon länger?
Can K.: Um ehrlich zu sein, nein. Ich denke, man kann sicher sagen, dass Erdogans Verhalten seit den Wahlen 2011 dreister geworden ist. Ich war immer mit ihren Ideologien nicht einverstanden, da ich nicht religiös bin, aber ich habe immer gedacht, dass sie sie ihr Ding machen können, solange ich meins machen kann. Doch in letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass meine Freiheit auf dem Spiel steht.
Vor kurzem hat die türkische Regierung den Verkauf, den Konsum und die Werbung von Alkohol stark eingeschränkt. Gibt es eine Tendenz zu mehr islamischen Regeln?
Can K.: Ja, definitiv. Das mit dem Alkohol ist besorgniserregend. Erdogan sagt, dass es ähnliche Gesetze auch in europäischen Länden gibt. Aber er verschweigt die Tatsache, dass der Alkoholverbrauch dort viel höher ist als hier und die Gründe für die Gesetze die öffentliche Gesundheit ist. Ich weiß nicht, ob man in Deutschland davon gehört hat, aber Fazıl Say (ein türkischer Pianist, Komponist und Bürgerrechtler, Anm. d. Red.) wurde vor einigen Monaten für eine Twitter-Nachricht bestraft. Er ist ein offener Atheist. Und sein Tweet, oder besser gesagt Retweet, war eine Kritik an Religion.
Wie reflektieren die türkischen Medien die Proteste?
Can K.: Kaum. Ich habe auf reddit (eine soziale Plattform, Anm. d. Red.) live über die Ereignisse berichtet, als die Proteste letzten Freitag Abend das erste Mal in Ankara ausgebrochen sind. Ich habe das über zehn Stunden hinweg getan und gar nicht geschlafen. Aber als ich am nächsten Morgen den Fernseher eingeschaltet habe, war da überhaupt nichts. Ich meine, nichts über Ankara. Zwei sehr große Gruppen sind auf das Parlament zumarschiert in dieser Nacht. Die Zusammenstöße gingen auch um 7 Uhr morgens noch weiter. Aber in den Morgennachrichten sagten sie überhaupt nichts dazu. Das war wirklich frustrierend. Die Mainstream-Medien konnten dem Druck nicht standhalten, als die Leute Samstag Nacht begonnen haben Bericht zu erstatten. Der größte Teil der nationalen Medien gehört religiösen Gruppen. Also, selbst wenn sie darüber berichten, ist es als ob wir die Bösen sind. 30 Menschen in İzmir wurden an diesem Dienstag sogar verhaftet, weil sie normales Zeug getwittert haben.
Erdogan nannte die Protestierenden "Extremisten".
Can K.: Das ist sicher nicht die Mehrheit. Aber ich werde nicht leugnen, dass es auch Provokation gibt. Am Dienstag machte ein Video aus Ankara die Runde. Nach einem Tag von friedlichen Protesten ging ein Polizeichef an das Megaphon und sprach zu der Menge. Er sagte: "Freunde, ihr habt euer Recht auf Protest genutzt und wir respektieren das, aber bitte, seid vorsichtig. Da sind einige Provokateure unter euch. Lasst euch nicht von ihnen hereinlegen." Und gerade, als er seinen Satz beendet hatte, haben einige Leute angefangen Feuerwerk loszuschießen und es brach Panik aus. Dann endet das Video.
Befürchtest du, dass diese Leute die Ziele der Proteste zerstören könnten?
Can K.: Ja. Anscheinend kann Istanbul solche Provokation besser bewältigen.
"In den Protesten sind wir alle vereint"
Befürchtest du, dass sich die Proteste aufteilen könnten?
Can K.: Nein. Es gibt keine klare Trennung zwischen den Protestierenden. Da sind Menschen mit verschiedenen Ideologien, verschiedenen Religionen, verschiedenem Hintergrund. Und sie alle handeln als eins. Fußballfans sind ein gutes Beispiel dafür. Nur drei Wochen zuvor haben sich die Hardcore-Fans der größten Teams mit dem Messer gegenüber gestanden. Nun sind sie alle in den Protesten vereint. Da ist eine große Vielfalt unter uns, auch wenn ich schätze, dass die Mehrheit junge Erwachsene sind. Sie sind in Freiheit aufgewachsen ohne schwere politische Übergriffe wie in den 1980er Jahren.
Worauf hoffst du in den nächsten Wochen und Monaten?
Can K.: Ich hoffe, Erdogan begreift, dass seine Haltung in letzter Zeit die Dinge nur verrückter macht. Die Rede seines Stellvertreters am Mittwoch war dagegen wesentlich sanfter. Obwohl es größtenteils immer noch nicht das war, was wir hören wollten. Aber es war nicht so aggressiv wie Erdogan.
Willst du, dass Erdogan zurücktritt?
Can K.: Ja. Aber ich glaube nicht, dass das passiert. So, wie sich die AKP präsentiert, zumindest für mich, ist Erdogan die AKP. Die Frage ist also, ob die AKP ohne Erdogan überleben würde.
"Im arabischen Frühling wollten die Menschen Freiheiten bekommen, wir wollen sie nicht verlieren"
In den deutschen Medien spekulieren viele über einen "Türkischen Frühling" in Bezug auf den arabischen Frühling. Glaubst du, dass man das vergleichen kann oder ist es eine andere Situation?
Can K.: Obwohl es einige Parallelen gibt, denke ich nicht, dass es dasselbe ist. In vielen arabischen Ländern fehlte es sogar an den grundsätzlichen Freiheiten. Bei ihrer Revolte ging es darum, diese zu bekommen, während es bei uns darum geht, sie nicht zu verlieren. Es wäre respektlos, sie mit uns zu vergleichen. Ich bin immer noch in der Lage, nach Hause zu kommen und darüber zu sprechen, während einige von denen nicht einmal ein Zuhause haben, um am Ende dorthin zurückzukommen.
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