EU-Ratspräsident Charles Michel will für das Europaparlament kandidieren und handelt sich damit jede Menge Kritik ein. Und das nicht nur, weil von Michels Karriereplänen ausgerechnet das Enfant terrible Viktor Orbán profitieren könnte.

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EU-Ratspräsident Charles Michel will bei der Europawahl im Juni an der Spitze der französischsprachigen liberalen Partei Mouvement Réformateur (MR) für einen Sitz im Parlament kandidieren. Als Ratspräsident, der die Zusammenarbeit der EU-Länder koordiniert und die Gipfeltreffen leitet, möchte er im Falle seiner Wahl zurücktreten, obwohl sein Mandat noch bis Ende November geht.

Nach vier Jahren an der Spitze des Gremiums der Staats- und Regierungschefs sei es seine "Verantwortung, sowohl Rechenschaft über die Arbeit der vergangenen Jahre abzulegen als auch ein Projekt für die Zukunft Europas voranzutreiben", findet der 48-jährige Belgier. Die EU stehe "an einem Scheideweg" und er wolle helfen, die europäische Demokratie zu stärken.

Weber: zentrale Rolle Orbáns verhindern

Jedoch: In Brüssel finden viele, dass Michels vorzeitiger Abgang der Europäischen Union eher schadet als nützt. Sie werfen ihm vor, seine Karriere über das Wohl der EU zu stellen.

Das hat zwei Gründe. Einer heißt Viktor Orbán. Denn nach EU-Regeln würde der Staats- oder Regierungschef des Mitgliedslandes, welches zum Zeitpunkt von Michels Ausscheiden den wechselnden Vorsitz im Europäischen Rat innehat, den Posten des Ratspräsidenten bis Ende November übernehmen. Und das wäre nach jetzigem Stand ausgerechnet der rechtsnationalistische Ministerpräsident von Ungarn.

Orbán, der den ungarischen Rechtsstaat demontiert. Orbán, der wichtige Vorhaben blockiert, keine Gelegenheit zum Streit auslässt und jüngst versucht hat, die Herausgabe eingefrorener EU-Gelder an sein Land zu erpressen. Orbán, der einzige EU-Staatenlenker, der nach Russlands Einmarsch in die Ukraine weiter enge Verbindungen zum Kreml unterhält.

Dass Ungarns Staatschef infolge der Europawahl "in eine zentrale Rolle" komme, müsse unbedingt verhindert werden, betonte der Chef der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, am Sonntag bei der Klausur der CSU-Bundestagsabgeordneten im oberbayerischen Kloster Seeon. Michels Ausscheiden dürfe nicht die europäischen Institutionen destabilisieren.

Harte Worte aus der eigenen Fraktion

Michel sagte der belgischen Zeitung "Le Soir", es sei "relativ einfach, die Nachfolge zu organisieren". De facto haben die Staats- und Regierungschefs bis Mittel Juli Zeit, über die Nachfolge zu beraten, ehe der Posten an Orbán fällt. Das Problem ist nur: Die Spitzenjobs in Brüssel werden nach einer Wahl in aller Regel als Paket vergeben.

Es geht um Proporz. Bekommt die eine Parteienfamilie den Kommissionsvorsitz, beansprucht die andere den Ratsvorsitz und so weiter. Politischer Viehhandel, der Zeit kostet. Dass der Ratspräsident eigentlich über die Neukonstituierung der Kommission hinweg im Amt bleibt, ist aus gutem Grund so angelegt.

Unabhängig vom Schreckgespenst Orbán wird Michels Entscheidung in Brüssel von vielen als egoistisch empfunden, auch in der eigenen Fraktion. Stabilität, so das Argument, sei in Zeiten, in denen die EU von innen wie außen unter Druck steht, besonders wichtig.

"Der Kapitän verlässt das Schiff inmitten eines Sturms", schreibt die niederländische Europaabgeordnete Sophie in't Veld von der liberalen Fraktion Renew Europe auf X und fragt: "Wenn Sie sich so wenig für das Schicksal der Europäischen Union engagieren, wie glaubwürdig sind Sie dann als Kandidat?"

Verwendete Quellen

  • dpa
  • afp
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